Mittwoch, 27. März 2024

Archiv

Matthias Dell
Wer war Gundolf Köhler?

Es gibt Unterschiede zwischen linkem und rechtem Extremismus. Das zeige sich schon an der Erinnerungskultur, findet Kolumnist Matthias Dell. Denn so präsent der RAF-Terror der späten 70er Jahre ist, so vergessen sind die Mordtaten von Rechtsextremisten aus jener Zeit.

13.07.2017
    Bunte Stoffrosen hängen an einem Mahnmal, wo am 26.09.1980 eine Bombe in der Nähe des Haupteingangs des Oktoberfests explodierte. 13 Menschen starben bei dem Anschlag, dutzende wurden schwer verletzt.
    Denkmal für die Opfer des Oktoberfest-Anschlags (dpa/ Peter Kneffel)
    Es wird in diesen Tagen nach dem Hamburger G20-Gipfel medial vermehrt über links und rechts geredet; und zwar in Bezug auf Gewalt, und nicht selten in dem Sinne, dass sich da ja gar nichts unterscheidet zwischen links und rechts. Ob Peter Altmaier, Ulf Poschardt oder die Tiroler Wut-und-Boden-Combo Frei.wild – alle sind sie froh, endlich mal raushauen zu können, dass sie linken Extremismus genauso schlimm finden wie rechten.
    "Wann war denn dieser Anschlag auf das Oktoberfest?"
    Dabei gibt es Unterschiede. Mir ist neulich einer aufgefallen, als ich einen Tag lang im NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags verbrachte. Der einzige Zeuge an diesem schönen, heißen Sommertag war kein geringerer als der hessische Ministerpräsident himself. Zehn Stunden lang versuchte Volker Bouffier, so wenig wie möglich preiszugeben über seine Handlungen als hessischer Innenminister in der Zeit der NSU-Morde – ein Rumgeeiere allererster Kajüte.
    Irgendwann in den zehn Stunden wurde Volker Bouffier gefragt, ob er in seiner Funktion als Innenminister etwas von Überlegungen mitbekommen habe, es könne eine Art "Braune Armee Fraktion" geben, also rechten Terrorismus in Deutschland. Gemeint war damit eine Diskussion unter Experten der inneren Sicherheit vom Beginn der 00er-Jahre. Aber Volker Bouffier, der zwischen 1999 und 2010 oberster Chef der inneren Sicherheit in Hessen war, antwortete allen Ernstes: "Ich weiß das nicht mehr so genau, wann war denn dieser Anschlag auf das Oktoberfest?"
    Am 26. September 1980, lieber Volker Bouffier, also zwanzig Jahre vor der Zeit, um die es in der Frage ging.
    Gespielte oder echte Ahnungslosigkeit
    Jetzt kann man natürlich sagen, dass Volker Bouffier mit Absicht doof tut, weil er dem Ausschuss ja eh nichts erzählen will und seine Ahnungslosigkeit plausibler wirkt, wenn er den Deppen nur konsequent spielt. Schließlich verlegte er bei einer anderen Äußerung an diesem Tag das brennende Wohnmobil, in dem die NSU-Terroristen am 4. November 2011 gefunden wurden, mal eben von Eisenach nach Erfurt.
    Aber ich glaube nicht, dass Volker Bouffier das mit Absicht macht. Er weiß es wirklich nicht – er verwechselt Eisenach und Erfurt und vor allem: Er hat keine Ahnung, wann das Oktoberfest-Attentat war, nicht mal ungefähr, obwohl das Oktoberfest-Attentat bis heute der terroristische Anschlag in Deutschland ist, der die meisten Todesopfer gefordert hat.
    1980 war Volker Bouffier schon ein denkender Mensch, ein fast 30-jähriger Rechtsanwalt, ein aufstrebender Politiker.
    Bombenanschlag in München hat keinen Eindruck hinterlassen
    Jede mediale Großereignis-Erinnerung lebt von der Behauptung, dass man noch wisse, wo man zu diesem oder jenem einschneidenden Zeitpunkt gewesen ist: als die Mauer fiel, als die Flugzeuge ins World Trade Center flogen, als die deutschen Herren Fußball-Weltmeister wurden. Der Bombenanschlag in München, in dessen Folge die Wiesn immerhin für einen Tag geschlossen blieb aus Pietät, hat dagegen keinen Eindruck hinterlassen. Bei Volker Bouffier nicht, aber auch nicht gesamtgesellschaftlich.
    Das hat einerseits damit zu tun, wie damals darüber berichtet wurde, nämlich als Einzelfall eines Verwirrten, und andererseits, wie seither daran erinnert wurde, nämlich kaum. Und das eben wäre ein Unterschied zwischen linker und rechter Gewalt.
    Die Verbrechen der RAF sind gut dokumentiert. Der sogenannte Deutsche Herbst 1977 ist vielfach verfilmt und immer wieder neu beschrieben worden. Alles hat eine Zahl und einen Namen, die man nachts um drei ohne nachzugooglen aufzählen kann: 7. April 1977: Mord an Buback, 30. Juli: Mord an Ponto, 5. September: Entführung Schleyers, 17. und 18. Oktober: Befreiung der Lufthansa-Maschine Landshut, Selbstmord Baaders, Ensslins und Raspes in der JVA Stammheim, Ermordung Schleyers. Das könnte noch eine ganze Weile so weitergehen wie in dem tollen Aufzählungslied "We didn't start the fire" von Billy Joel: der Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, Wurster und Göbel, der Mord an Alfred Herrhausen – lauter Namen, die man schon mal gehört hat, die wieder und wieder erinnert worden sind.
    Sagt Ihnen die "Gruppe Ludwig" etwas?
    Der rechte Terror ist dagegen vergessen. Oder sagt Ihnen die "Gruppe Ludwig" etwas? Eine rechtsterroristische Vereinigung, die in Italien und Deutschland zwischen 1977 und 1984 mehrere Anschläge mit mindestens 15 Toten verübte. Haben Sie schon mal von dem Neonazi Uwe Behrendt gehört, der wie der Oktoberfest-Attentäter Gundolf Köhler zur "Wehrsportgruppe Hoffmann" gehörte und im Dezember 1980, also drei Monate nach Oktoberfest-Anschlag, in Erlangen den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Frau Frida Poeschke umbrachte? Ist Ihnen der Name Helmut Oxner bekannt, ein rassistischer Amokläufer, der 1982 in Nürnberg drei Menschen erschoss und drei weitere verletzte mit dem kolportierten Ausruf: "Ich schieße nur auf Türken"?
    Ich habe mal einen SWR-Spielfilmredakteur gefragt, warum es sechs verschiedene Darstellerinnen der Gudrun Ensslin in eben so vielen RAF-Verarbeitungsfilmen gibt, aber fast keinen über deutschen Rechtsterrorismus. Der SWR-Redakteur schaute mich unverständig an, die Frage war auch gemein: Natürlich wusste er von nichts – nicht von der Gruppe Ludwig, nicht von Uwe Behrendt, nicht von Helmut Oxner. Und jede Wette: Peter Altmaier, Ulf Poschardt und Frei.wild geht es nicht anders. Sie wissen nicht, wovon sie reden.