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Matthias Rüb: "Der atlantische Graben. Europa und Amerika auf getrennten Wegen"

Der Irak-Krieg hat nicht nur zur Polarisierung innerhalb Amerikas beigetragen, er hat auch das schon länger wirkende Auseinanderdriften zwischen Europa und Amerika aufgezeigt. Trotz aller transatlantischen Treueschwüre ist dieses Auseinanderdriften nicht mehr zu verkennen. Es ist allerdings ein historischer Prozess und erfolgt entsprechend langsam oder in Schüben. Nur der Rückblick auf ganze Epochen und ihre Brüche zeigt das Ausmaß und den Stand dieses Prozesses. Matthias Rüb, seit Jahren engagierter Beobachter gerade auch der mentalen Eigenheiten und Entwicklungen in Amerika, hat diesen Prozess nun festgehalten. Er sieht Europa und Amerika auf getrennten Wegen.

Von Marc Christoph Wagner | 01.11.2004
    Mit der Vorhersage historischer Entwicklungen ist es so eine Sache. Noch im Frühjahr 2001 schrieb der Historiker Hans-Peter Schwarz in Hinblick auf die Zukunft der atlantischen Gemeinschaft:
    Die Lage ist für alle Beteiligten viel kalkulierbarer als zu Beginn der 1990-er Jahre. Derzeit spricht manches dafür, dass dies andauern wird. Auch beim Blick auf die außer-europäischen Sicherheitsgefährdungen - Schurkenstaaten, Krisen am Golf, Terrorismus, fundamentalistische Strömungen im muslimischen Bereich - ist ein enges Zusammenwirken für Amerika und für Europa vorteilhafter als riskante Alleingänge.

    Mit dieser Stabilität, aber auch der transatlantischen Solidarität, war es kurz nach den Anschlägen des 11. September vorbei. Stieß der Angriff auf das Taliban-Regime in Afghanistan noch auf Verständnis und Unterstützung, wurde im Irak eine Grenze überschritten. Selbst in denjenigen europäischen Staaten, die sich an der so genannten Koalition der Willigen beteiligten, war eine Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg.

    Die meisten Europäer teilen diese Auffassung von UNO-Generalsekretär Kofi Annan: Wer Legitimität beansprucht, muss diese selbst verkörpern. Wer internationales Recht implementiert, muss sich dem auch unterwerfen. Eben das, so die häufig formulierte Kritik, hätten George Bush und seine neokonservativen Hintermänner versäumt. Sie hätten die Anschläge des 11. September genutzt, um Amerikas globalen Einfluss zu vergrößern. Pure Macht - und nicht Moralpolitik hätten ihr Handeln bestimmt. Um es vorwegzunehmen: Wer sich lediglich eine weitere Bestätigung dieser Grundhaltung verspricht, sollte das Buch von Matthias Rüb: Der atlantische Graben. Europa und Amerika auf getrennten Wegen nicht lesen. Dem Autor, seit gut zwei Jahren politischer Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Washington, geht es nicht darum, in die eine oder andere Richtung zu polemisieren. Vielmehr stehen langfristige Entwicklungen im Zentrum, die die transatlantische Gemeinschaft vor fulminante Herausforderungen stellen:

    Der Epochenbruch, der sich zwischen dem 9.11 und dem 11.9 vollzogen hat, wird nicht zu einem ‚Kampf der Zivilisationen’ zwischen Europa und Amerika führen, wohl aber zu einem Wettbewerb der Missionen und Visionen. Daß Amerikaner wie Europäer gleicher-maßen den Prinzipien von Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und Marktwirtschaft verpflichtet sind, ändert nichts an der Tatsache, daß die Lebens- und Wahrnehmungswelten beiderseits des atlantischen Grabens sich markant unterscheiden. Vielleicht sind sie sogar so weit voneinander entfernt, daß ihnen schon die Kommunikation schwer fällt: Mehr als ein Dialog der Gehörlosen findet bisher kaum statt.

    Beide Daten - der 9. November 1989 und der 11. September 2001 - markieren für Rüb nicht alleine Anfang und Ende einer historischen Übergangsphase. Sie sind Symbole des divergierenden Weltbildes dies- und jenseits des Atlantiks. Für die Europäer, so Rübs zentraler Gedanke, habe mit dem Fall der Mauer eine neue Phase der Selbstfindung begonnen. Nahezu alle Energien hätten sich auf den Bau des gemeinsamen europäischen Hauses konzentriert. Konflikte sollten nunmehr nur noch am Verhandlungstisch gelöst werden. Ein schönes, jedoch weltfremdes Ideal - so zumindest, stellt Rüb fest, müsse diese Haltung aus Sicht der Amerikaner wirken. Denn nicht allein hätten die Europäer die blutigen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien weder verhindern, geschweige denn lösen können.

    Die Anschläge des 11. September hätten gezeigt, dass der allseits ersehnte ‚Ewige Friede’ noch lange nicht erreicht sei. Ebenso wie die USA im 20. Jahrhundert Europa vom Joch der Diktatur befreiten und Demokratie und Menschenrechte sicherten, setzten sie diesen Kampf nun andernorts fort - zur Not auch gegen den Willen alter Partner:

    Wer seine militärische Macht zum eigenen Nutzen und zum Frommen der gesamten Menschheit eingesetzt zu haben glaubt, der wird sich angesichts neuer Herausforderungen und ungekannter Gefahren im 21. Jahrhundert nicht schwächer machen, sondern stärker. Wer auf das 20. Jahrhundert nicht als Katastrophenjahrhundert zurückblickt, der wird eher zum Einsatz militärischer Gewalt neigen als die Schar gebrannter Kinder in Europa. Wer im Krieg einen Katalysator des Fortschritts, der Demokratie und der Freiheit sieht, wird nicht über Nacht zum Abrüstungsfanatiker.

    Ein solcher Blickwinkel stellt den moralischen Hochmut vieler Europäer gegenüber den Amerikanern in ein neues Licht. Denn tatsächlich stellt sich die vom Irak-Konflikt völlig unabhängige Frage, ob Europa seiner weltpolitischen Rolle gerecht wird und ob es in der Lage ist, vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bestehen. Das gilt nicht allein für den verteidigungs- und sicherheitspolitischen Bereich. Nahezu die Hälfte seines Buches verwendet Rüb auf miteinander vernetzte gesellschaftliche Themen wie Einwanderung, demographische Entwicklung oder den Umbau des Sozialstaates. Und egal, welchem dieser Punkte sich der Autor widmet, so wird deutlich, dass man dies- und jenseits des Atlantiks grundverschiedene Wege geht, und dass der europäische dabei keineswegs immer auch der bessere ist:

    Obwohl in den Vereinigten Staaten weder die Bestimmungen des Mutterschutzes noch die staatlichen Beihilfen für Kindererziehung mit jenen in den meisten Staaten der EU zu vergleichen sind, werden in Amerika mehr Kinder geboren - auch in den Familien der Mittelklasse, zu deren globaler Kultur die Beschränkung auf zwei Kinder gehört. Die amerikanische Gesellschaft ist - oder gibt sich - dynamischer, sie ist mobiler und hat ein robusteres Wirtschaftswachstum als die meisten europäischen Staaten. Und sie ist von einem Geist des Optimismus, von einer Mentalität des ‚can do’ beseelt, die den meisten europäischen Gesellschaften fremd sind.

    Dieses Buch lässt sich nur empfehlen. Der atlantische Graben. Europa und Amerika auf getrennten Wegen ist nicht allein ein kluges und faktenreiches Werk eines brillanten Autors, welches so manches Klischee hinterfragt. Es ist hochaktuell - und geht doch weit über den Tag hinaus. Egal, wer die amerikanische Präsidentschaftswahl gewinnen oder auch künftig an europäischen Gipfeltreffen teilnehmen wird, an den von Rüb skizzierten Problemen gibt es für niemanden ein Vorbei. Der Dialog der Gehörlosen könnte mit der Lektüre dieses Buches ein Stück weit überwunden werden.

    Matthias Rüb
    Der atlantische Graben. Europa und Amerika auf getrennten Wegen
    Paul Zsolnay Verlag, 210 S., EUR 17,90