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Mauerfall 1989
Die Rolle der protestantischen Kirche

Die Diskussion flammte im Jubiläumsjahr wieder auf: Die Rolle der evangelischen Kirche im Herbst 1989 werde heute klein geredet, sagt Ellen Ueberschär von der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Institution Kirche sei kein Impulsgeber gewesen, gibt der Historiker Pollack zu bedenken.

Von Carsten Dippel | 30.12.2019
Am Montag, dem 9. Oktober 1989, findet nach dem Montagsgebet in der Nikolaikirche die historische, friedliche Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern statt. Schweigend und ohne Transparente ging es vom Karl-Marx-Platz um den Leipziger Innenstadtring - im Bild am so genannten Blauen Wunder, einer Fußgängerbrücke am Richard-Wagner-Platz, unmittelbar neben dem Konsument-Kaufhaus "Blechbüchse". Foto: Volkmar Heinz/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
Zahlreiche Menschen gehen am 9. Oktober 1989 in Leipzig zur Montagsdemonstration auf die Straße. Über 70.000 kamen an diesem Abend zum Friedensgebet zusammen. (dpa-Zentralbild)
"Die Revolution war viel protestantischer als wir 30 Jahre danach den Eindruck haben, weil ich mich schon darüber wundere, dass über die Rolle der Kirchen überhaupt nicht mehr gesprochen wird. Was wohl damit zu tun hat, dass wir 30 Jahre danach weniger die DDR verhandeln als die 90er Jahre und die Transformationsphase.", sagt Ellen Ueberschär. Die Theologin arbeitet im Vorstand der Heinrich Böll-Stiftung. Sie engagierte sich schon früh in der kirchlichen Jugendarbeit.
Das Bild einer "protestantischen Revolution" hat der Religionssoziologe Detlef Pollack schon Anfang der 90er Jahre hinterfragt. Er sagt: "Die Kirchen waren wichtig insofern, dass sie eine Schneise in das System geschlagen haben und gezeigt haben, dass nicht alles von oben her dominiert und strukturiert werden kann. Aber sie haben sich nicht als Institution verstanden, die den Protest organisiert. Sie gingen nicht voran und sie waren da auch nicht die Stichwortgeber."
"Viele haben ein großes Risiko auf sich genommmen"
Die Bilder überfüllter Botschaften brachten für viele DDR-Bürger im Spätsommer 1989 das Fass zum Überlaufen. Ihren wachsenden Unmut über die Reformunfähigkeit der Machthaber brachten sie mit einem trotzigen "Wir bleiben hier!" zum Ausdruck. Die Proteste, die aus den Friedensgebeten wie der Leipziger Nikolaikirche hinaus auf die Straßen drangen, setzten schließlich eine von allen Seiten unterschätzte Dynamik in Gang. Als das Regime am 9. Oktober zögerte, die Demonstration von 70.000 Menschen in Leipzig gewaltsam niederzuschlagen, war der Machtkampf quasi entschieden.
Zu den Demonstrationen, die bis heute das Bild der Friedlichen Revolution prägen, hätten Kirche und Opposition jedoch nicht aufgerufen, betont Pollack. Es sei der Opposition nicht darum gegangen, die Massen auf die Straße zu bringen, sondern um schrittweise Reformen, um die Legalisierung der neuen Bewegungen wie Neues Forum oder Demokratie Jetzt. Pollack verweist auf Städte in der Provinz, wo sich Massenproteste völlig unabhängig der Kirche und ihren Friedensgebeten formierten. Wenn heute ehemalige Bürgerrechtler behaupteten, sie seien die Initiatoren der Massenproteste gewesen, sei das ein Mythos.
"Der Mut dieser kleinen Schar soll nicht gering geschätzt werden, das verdient hohen Respekt. Aber zu sagen, dass aus diesem Einzelprotest die Massendemonstrationen hervorgegangen sind, ist historisch falsch. Das ist eine Form der Enteignung. Man tut so, dass die Bevölkerung sich die Revolution habe schenken lassen, hinter der Gardine gestanden habe, abgewartet habe, nichts riskiert habe. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Menschen haben ein großes Risiko auf sich genommen, sie wussten das ganz genau."
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack.
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack. (dpa/Uni Münster/brigitte Heeke)
Gleichwohl hätten die Kirchen einen ungemein wichtige Funktion erfüllt, sagt Pollack. Hier war ein Ort, wo sich Unmut und Kritik am System äußern, Protest anlagern konnte.
"Die Menschen haben schon auch den Schutz der Kirche gesucht und im Laufe der Revolution wurde das eine immer engere Verbindung zwischen der Kirche und den protestierenden Massen.", sagt Detlef Pollack.
"Die Minderheit macht Angebote"
Wie wichtig dieser kirchliche Schutzraum war, daran erinnert sich auch die ehemalige Bürgerrechtlerin und spätere Leiterin der Stasiunterlagenbehörde Marianne Birthler. Pollacks Kritik an manchen Bürgerrechtlern heute, kann sie nicht teilen. Die kirchennahe Opposition habe der Protestbereitschaft vielmehr Form und Sprache verliehen. Sie sagt:
"Das ist, glaube ich, in revolutionären Prozessen immer so, dass es an einer Minderheit ist, Angebote zu machen, an denen Menschen andocken können. Wenn man sich mal die Gethsemanekirche, das Zentrum im Herbst 1989 anschaut, gab es dort jede Menge Informationsangebote, es gab ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen, die einfach reingekommen sind, sich umgeschaut haben, das Gespräch geführt haben und das hatte wesentlich mit der Opposition zu tun, die ein Bündnis mit der Gethsemanegemeinde eingegangen ist und dort Arbeitsmöglichkeiten hatte."
Hier kam etwas zum Tragen, was sich über viele Jahre aufgebaut hatte. In der von den Zumutungen der Partei beherrschten DDR boten einzig die Kirchen einen Freiraum, der daran erinnerte, dass ein anderes Leben möglich war. Hier konnte offen diskutiert werden, hier waren Fragen erlaubt. Hier gab es eine Anleitung zum kritischen Denken und demokratische Spielregeln, etwa bei innerkirchlichen Wahlen. Eine Keimzelle der Freiheit, die im Herbst 1989 aufbrechen und ihre Wirkung in die Gesellschaft entfalten konnte.
Abschied von der Machtfrage
Ellen Ueberschär: "Welche Sprache verwenden wir, verwenden wir diese hölzerne zugerichtete Sprache, die eigentlich nur aus Hülsen besteht oder haben wir eine Sprache, die anspricht und mit einer ehrlichen und verbindlichen Gemeinschaft in Beziehung setzt? Das war eigentlich das, was Kirche für viele bedeutet hat. Weitergedacht, vom Krippenspiel bis zu diesen Synoden und Texten, um die gerungen wurde und in denen es um die Frage ging, in welcher Situation befinden wir uns hier eigentlich politisch, gesellschaftlich, kulturell."
Ellen Ueberschär, Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung.
Ellen Ueberschär, Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
Mit dem Konzept einer "Kirche im Sozialismus" beschritt die Evangelische Kirche ab Mitte der 1970er Jahre einen Weg des Kompromisses. Man stand nicht mehr in Konfrontation zum Regime, wie noch in den 50er und 60er Jahren, sondern ließ sich auf die DDR ein und um den Preis eines stabilisierenden Faktors errang sie Spielräume für innerkirchliches Handeln. Es war die Grundlage, auf der oppositionelle Gruppen unter dem Dach der Kirche einen Platz fanden. Von der Machtfrage hatte sich die Kirche damit verabschiedet, obwohl sie mit jedem erkämpften Freiraum und dem Eintreten für Menschen implizit war, so Birthler.
Sie sagt: "Die Machtfrage ist ja nicht mal von der Opposition explizit gestellt worden. Das kam erst zu einem späteren Zeitpunkt der Revolution. Wir haben mehr darauf gesetzt, den Staat beim Wort zu nehmen und Veränderungen unter den gegebenen Bedingungen anzustreben. Man muss auch sagen, dass es in den Kirchen auch unterschiedliche Haltungen gab. In der Kirchenleitung gab es durchaus auch Kräfte, die die Opposition eher ausbremsen wollten. Die hätten nicht im Traum daran gedacht, politische Grundsatzfragen zu stellen."
Plötzlich saßen auch SED-Mitglieder auf der Kirchenbank
"Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" waren die Stichworte des konziliaren Prozesses ab Mitte der 80er Jahre, der damit auch inhaltlich Themen setzte, die dem Umbruch in der DDR eine von protestantischer Verantwortungsethik getragene Farbe gab. Was dabei fehlte, war ein gleichermaßen ausgearbeitetes Konzept zur Freiheit.
"Nachträglich wundere ich mich auch, dass der Freiheitsbegriff nicht akzentuiert wurde. Manchmal haben wir uns auch strategisch, taktisch verhalten und bestimmte Reizworte vermieden. Es ist ein Begriff mit einer solchen Signalstärke, dass er eigentlich nicht hätte fehlen dürfen", sagt Marianne Birthler.
Marianne Birthler, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, vor einem erhaltenen Stück der Berliner Mauer in der Bernauer Straße.
Marianne Birthler, ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen. (Alexander Moritz/ Deutschlandradio)
Marianne Birthler, ab 1987 im Stadtjugendpfarramt von Berlin, verstand ihre Arbeit durchaus politisch.
"Wir haben das damals politische Diakonie genannt, weil die Kirche auf ein Defizit reagiert hat. Zum anderen muss man sagen, dass es doch eine ganze Reihe von Personen gab, die unter normalen Bedingungen was anderes geworden wären. Die doch wegen des Drucks es vorzogen, ihre Ausbildung bei der Kirche zu machen als Theologen, Gemeindepädagogen und das waren natürlich überwiegend politische Menschen, die die Kirche wiederum politisiert haben."
Im revolutionären Herbst genoss die Kirche Vertrauen auf allen Seiten. Ihre Rolle als Moderator beim Zentralen Runden Tisch, bei der Ausarbeitung von Texten zu einer neuen Verfassung, ihr Appell an die Gewaltfreiheit, als das brachte ihr Achtung ein. Auf den Kirchenbänken zu den Friedensgebeten saßen plötzlich auch SED-Mitglieder, Lehrer, Arbeiter aus den Betrieben und gewiss waren das nicht alles Stasi-Spitzel. Sie entdeckten für sich Kirche als einen neuen Raum und staunten über eine Kultur des offenen Wortes, die sie selbst gar nicht kannten. Eine "protestantische Revolution" mache das dennoch nicht gleich, meint Detlef Pollack.
Er sagt: "Das ist der Weg der Kirche. Sie haben immer gesagt, wir öffnen unsere Kirchenhäuser, damit die Radikalität der Straße eingedämmt werden kann, aber selbstverständlich wollen wir die Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellen. Insofern muss man unterschieden zwischen dem Handeln der Massen auf der Straße – und das war entscheidend für das Revolutionsgeschehen – und den Mitteln der Kirche, die darauf ausgerichtet sind, einen Dialog zu ermöglichen und das Gespräch zwischen Gruppen in der Bevölkerung und dem Staat zustande zu bringen.
"Als Siegerinstitution wahrgenommen"
Im Frühjahr 1990 tauchte bei einer Demonstration ein Plakat auf mit dem Spruch: "Danke dir, Kirche!" Daraus sprach Anerkennung für ihre Rolle in der Friedlichen Revolution, aber auch eine Art Verabschiedung. Die vollen Gotteshäuser im revolutionären Herbst hatten die reale Situation der Evangelischen Kirche in der DDR überzeichnet. Sie war wegen der Entkirchlungspolitik der SED weit weniger in der Gesellschaft der DDR verankert, als es in jenen Monaten den Anschein haben mochte. Noch zu Beginn des neuen Jahres waren die Erwartungen an die Kirche groß, doch die Wege trennten sich bald. Die Kirche verlor recht schnell wieder an Bedeutung, sogar Misstrauen kam auf, sagt Detlef Pollack. Sie war schließlich die einzige Institution, die die DDR relativ unbeschadet überstand, während ringsum in atemberaubender Geschwindigkeit alles zusammenbrach. Detlef Pollack sagt:
"Ich glaube, dass viele Menschen dann die Kirche als eine Art Siegerinstitution wahrgenommen haben. Als eine Institution, die vom Westen geschützt wird. Waren ja schon 1990 relativ große Vorbehalte gegen den Westen, auf einmal war sie nicht mehr der Repräsentant der ostdeutschen Interessen, sondern man fragte sich, ob die Kirche wirklich das Volk repräsentieren kann."
In einem historisch entscheidenden Augenblick hatte die Evangelische Kirche freilich eine ungemein wichtige Bedeutung, erklärt Ellen Ueberschär:
"Ich hoffe, dass das bleibt, dieses Bewusstsein, dass aus christlicher Sicht niemand schweigen kann, der weiß, dass er in der Lage wäre, etwas gegen dieses unterdrückerische System zu unternehmen. Wenn das das ist, was übrigbleibt, dann ist das sehr viel."