Donnerstag, 25. April 2024

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30 Jahre Friedliche Revolution
"Wir haben uns recht ordentlich verhalten"

Christof Ziemer war 1989 Pfarrer und Superintendent in Dresden. Als es Anfang Oktober zu gewaltsamen Konfrontationen von Ausreisewilligen, Demonstrierenden und der Polizei kam, setzte er sich für Gewaltfreiheit ein. "Das hatten wir in den Achtzigern gelernt, in der Friedensbewegung", sagt Ziemer im Dlf.

Christof Ziemer im Gespräch mit Susanne Fritz | 11.10.2019
Als Prediger mit Charisma, Begleiter, Vermittler und Visionär war er mittendrin. Christof Ziemer. 1980 bis 1992 Superintendent in Dresden, gehört zu den wichtigsten Protagonisten der Friedlichen Revolution in Sachsen. Dafür wurde ihm 2003 die Ehrenbuergerschaft der Stadt Dresden cerliehen. Im Wörterbuch speichern Keine Wortliste für Deutsch -> Englisch... Eine neue Wortliste erstellen... Kopieren
Der evangelische Pfarrer Christof Ziemer. Er gehört zu den wichtigsten Protagonisten der Friedlichen Revolution 1989 (imago / epd / Matthias Rietschel)
Susanne Fritz: Vor 30 Jahren – im Oktober 1989 – gingen in Leipzig, aber auch in Dresden und anderen ostdeutschen Städten Hunderttausende von Menschen auf die Straße. Sie demonstrierten für ein Ende der SED-Herrschaft, für demokratische Reformen und mehr Freiheit. Es war die Zeit der Friedlichen Revolution in der DDR. Mit Kerzen in der Hand trugen die Massen entscheidend zur Wende bei. In dieser Woche wurde das Jubiläum vor allem in Leipzig feierlich begangen. Im Studio begrüße ich Christof Ziemer, er ist Zeitzeuge, war damals in Dresden Pfarrer und Superintendent und hat die Friedliche Revolution miterlebt. Guten Morgen, Herr Ziemer.
Christof Ziemer: Guten Morgen.
"Die Polizei in martialischer Aufmachung"
Fritz: Wenn es um die Friedliche Revolution vor 30 Jahren geht, dann denken die meisten an die Montagsdemonstration in Leipzig am 09. Oktober. Aber im Herz 1989 gab es auch Massenproteste in Dresden. Welche Erinnerungen aus diesen Tagen hat sich Ihnen am stärksten eingeprägt?
Ziemer: Ja, vielleicht am stärksten ist die Erinnerung an die ersten Oktobertage. Am 3. Oktober wurde die Grenze zur Tschechoslowakei gesperrt und die Ausreisewilligen, die nach, aus der DDR nach Prag wollten, in die Botschaft, um auf diesem Weg in den Westen zu kommen, wurden, sozusagen, an der Grenze zurückgewiesen und sie stauten sich zurück auf dem Hauptbahnhof in Dresden. Und in der Nacht vom 3. zum 4. und am 4. selbst ist es dann zu massiven Konflikten zwischen diesen Ausreisewilligen, die voller Wut waren und ohnmächtig davor standen, dass sie jetzt nichts tun konnten und da entwickelte sich dann eine gewaltsame Konfrontation zwischen diesen Ausreisewilligen, den Protestierenden und der Polizei – zunächst im Bahnhof und dann auch am nächsten Tag vor dem Bahnhof – und mit einer richtigen Gewalteskalation.
Es sind Menschen verletzt worden, es ist der Bahnhof teilweise zerstört worden, es sind Pflastersteine herausgenommen worden, ein Polizeiauto angezündet worden. Die Polizei – in einer martialischen Aufmachung, wie wir sie nie gekannt haben mit Schilden, langen Stöcken und Helmen und Wasserwerfern – also das ganze Arsenal, damit ging es los. Übrigens, in der gleichen Nacht war die, gab es eine erste Kirchenbesetzung, Ausreisewillige gingen in eine Kirche und sagten, wir gehen nicht, wenn ihr uns nicht helft, dass wir rauskommen. Am nächsten Tag gab es noch mal zwei solche Kirchenbesetzungen, alle sind sie übrigens dann schließlich herausgekommen. Die Tage von diesem 3./4. bis zum Wochenende sind nun eigentlich die entscheidende Erfahrung. In diesen Tagen gehen die Demonstrationen weiter, jeden Tag, es gibt in diesen Tagen 1.300 Zuführungen, wie man damals euphemistisch sagte – Verhaftungen. Aber es gibt in diesen Tagen eine Entwicklung. Es gibt eine Entwicklung von der Gewalt zur Gewaltlosigkeit, jedenfalls der Demonstranten. Es gibt eine Entwicklung von "Wir wollen raus", als Ruf zunächst bei den Ausreisewilligen, zu dem Ruf "Wir bleiben hier, Reformen wollen wir". Und es gibt eine Entwicklung zwischen einer statischen Konfrontation zwischen Polizei und den Protestierenden, den Demonstranten, vor dem Hauptbahnhof auf der Prager Straße, jeden Tag, sozusagen, bis zum Sonnabend, das war der 7. Oktober – das war der Jahrestag der DDR –, wo dann erstmalig sich diese statische Konfrontation, gewaltsame Konfrontation auflöste in einen Marsch durch die Stadt und damit der Aufbruch, sozusagen, begann.
"Die Tage waren schwer zu ertragen"
Fritz: Was haben Sie in dieser Zeit gemacht? Sie waren in der Zeit in Dresden Pfarrer und Superintendent, sie haben das ja nicht nur beobachtet, sind Sie auch in irgendeiner Form aktiv geworden?
Ziemer: Ich bin in der Nacht früh, am 4. kurz nach Mitternacht um kurz nach halb eins, bin ich aus dem Schlaf geweckt worden von einem Bekannten und der hat gesagt: "Herr Ziemer, kommen Sie bitte an den Bahnhof, da ist Gewalt, versuchen Sie etwas zu verhindern." Ich bin dann dort gewesen und wir haben versucht in den Bahnhof zu kommen, ich habe versucht mit der Polizei, mit dem Polizeichef zu sprechen, ich habe dann nur noch heute im Ohr den – auch durch das Megaphon vertieften – Ruf: "Herr Ziemer, verlassen Sie im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit den Bahnhof." Da war nichts zu machen. Und die Tage waren schwer zu ertragen, ich selbst habe es auch persönlich sehr schwer ertragen, diese Ungewissheit.
Am 3./4. hatten wir zu tun mit den Kirchenbesetzungen, da mussten wir uns darum kümmern. Dann in den Tagen danach war es eben, es musste sich ja ändern und diese Änderung ist, denke ich, das Entscheidende, dass sie, es sind Menschen mit Kerzen dorthin gegangen, wo die Pflastersteine rausgeworfen wurden und haben sich dorthin gesetzt. Wir haben in die Kreuzkirche eingeladen, um uns auszutauschen, was können wir tun. Wir haben ab Freitag, am 06. geht es los, jeden Tag abends 18 Uhr ein Friedensgebet gemacht. Und bei uns kamen die Menschen an, die suchten ihre Angehörigen, die inhaftiert waren und daraus ergab sich zum Beispiel eine sehr aufwendige Begleitung, erst der Angehörigen, dann der Inhaftierten, dann der, die Aufarbeitung dessen, was gewesen ist, bis zuletzt, dass sie Gedächtnisprotokolle geschrieben haben mit denen dann auch offengelegt werden konnte die Brutalität der Polizei. Ich habe nur von den ersten Tagen geredet, der entscheidende Tag war eigentlich der 8. Oktober abends.
Fritz: Der Sonntag, ein Tag vor der großen Demonstration in Leipzig.
Ziemer: Genau. An diesem …
Fritz: Da gab es wieder eine Demonstration in Dresden, die war aber auch gewalttätig teilweise, aber es gab auch eine Gruppe von Dresdener Bürgern – nämlich 20 Stück –, die sich dann zusammengefunden haben und ihre politischen Forderungen vorbrachten.
Fritz: Ja, abends ging einer dieser Züge dann auf die Prager Straße wieder. Nachdem sie durch die Stadt gewandert waren, waren sie wieder dort am Hauptbahnhof, wo es losgegangen war. Und sie setzen sich dorthin und zwei katholische Kapläne, Andreas Leuschner und Frank Richter, haben Initiative ergriffen, haben mit der Polizei das Gespräch gesucht, daraus entstand die Idee eines Gespräches, um das die Demonstranten bitten wollten mit dem Oberbürgermeister. Es wurden 20 Leute ausgewählt, das war dann die spätere Gruppe der 20, es wurde ein Forderungskatalog aufgestellt, simultan war ich mit unserem Landesbischof im Rathaus. Das endete damit, dass wir mit dem Auto auf die Prager Straße fuhren und ich der Gruppe der 20 und den Versammelten, der Demonstrationsgruppe da, die Entscheidung mitteilte, dass morgen ein Gespräch sein wird, und dass wir abends in vier Kirchen Informationsveranstaltungen machen werden.
"Es ging darum, dass der Dialog beginnt"
Fritz: Was konnte diese Gruppe der 20 bewirken?
Ziemer: Diese Gruppe hat schon gleich am Anfang, natürlich auch ganz konkrete Forderungen gehabt, zum Beispiel die Freilassung der Gefangenen. Da wurden, die meisten Inhaftierten sind innerhalb einer Woche freigekommen. Dann ging es ja darum, dass der Dialog beginnt, dass in dem Land die Staatsmacht spricht mit den Bürgern. Das war schwierig, aber es ist ja daraus alles geworden. Die haben das erste Rathausgespräch, nach einem zweiten Rathausgespräch hatte die Gruppe bereits am 26. Oktober Rederecht in der Stadtverordnetenversammlung, im Parlament.
Fritz: Sie haben, wenn ich Sie richtig verstehe, eine Vermittlerrolle ausgefüllt in diesem Konflikt. Wie war denn grundsätzlich, wenn Sie zurückblicken auf diese Zeit, die Rolle der evangelischen Kirche oder Christen bei dieser Friedlichen Revolution vor 30 Jahren?
Ziemer: Diese Rolle war, denke ich tatsächlich, ist die Gewaltfreiheit. Das hatten wir in den 80er-Jahren gelernt. Das ging mit der Friedensbewegung da los, die ökumenische Versammlung hatte eine vorrangige Option für die Gewaltfreiheit formuliert neben anderen Dingen. Wir mussten immer damit umgehen, dass wir Forderung, Ideen hatten, die über das hinaus gingen, was der Staat meinte sich leisten zu können.
Christof Ziemer, 1980 bis 1992 Superintendent in Dresden, am Rednerpult bei der 5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 15.-19.9.1989 in Eisenach. Als Prediger mit Charisma, Begleiter, Vermittler und Visionaer war er mittendrin. Christof Ziemer gehoert zu den wichtigsten Protagonisten der Friedlichen Revolution in Sachsen.
Christof Ziemer am Rednerpult bei der 5. Tagung der V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Eisenach (imago / epd / Bernd Bohm)
Fritz: Sie haben jetzt schon, sind schon auf die Friedensbewegung zu sprechen gekommen, ich würde gerne noch mal zurückgehen auf die Rolle der evangelischen Kirche. Hat die evangelische Kirche den Demonstranten so was wie eine Heimat gegeben?
Ziemer: Einen Ort gegeben. Ein Dach gegeben unter dem sie sich versammeln konnten. Das war ja schon in den 80er-Jahren die Friedensgruppen, die Umweltgruppen, die sich engagierten damals in den Überlebensfragen. Und das passierte unter dem Dach der Kirchen. Und diese Funktion, den Menschen einen Raum zu geben, in dem sie sich artikulieren können – zunächst im kirchlichen Bereich und dann aber auch eben draußen. Das war schon ein Thema in den 80er-Jahren. Aber es war in den 80er-Jahren auch wichtig, dass wir dann einen Weg gefunden haben miteinander, die Kirchen miteinander, alle Kirchen miteinander und die Gruppen miteinander in einem Prozess, in einer ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung zu versammeln und da einen Lernweg, eine Suchbewegung miteinander zu vollziehen, die uns erst mal die Barrieren voreinander niedrig gemacht hat und die uns dazu auch in die Lage versetzt hat, dann mit einer Stimme zu reden.
Grund zum Stolz?
Fritz: Sagen Sie bitte ein Wort noch zu der ökumenischen Versammlung, seit wann gab es die?
Ziemer: Von der Friedensbewegung ausgehend hatten sich in den 80er-Jahren die Fragen des Friedens, die ganz aktuell waren und auf dem Tisch lagen, aber die Umweltfragen waren sehr, nahmen unheimlich zu – denken Sie an Tschernobyl und Ähnliches – und die Fragen der weltweiten Gerechtigkeit und zwar weltweit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der DDR. Das Alles hat uns bewogen einen Prozess in Gang zu setzen, miteinander über diese Fragen zu reden. Und wir haben die Gemeinden aufgefordert, sich dazu zu äußern. Da bekamen wir 10.000 Vorschläge – 10.000 – und das war sozusagen, davon sind wir dann ausgegangen von den Fragen der Menschen, die natürlich sehr viel zu tun hatten mit ihrer Lebenssituation, aber eben auch im Blick auf diese Themen und wir die Überlebensfragen und die Fragen der Erneuerung der DDR-Gesellschaft miteinander verknüpft haben und daraus auch eine, auf diesem Weg, eine Erfahrung, auch übrigens eine ökumenische Erfahrung gemacht haben, die unvergleichlich war.
Fritz: Würden Sie eigentlich sagen, dass all diese Initiativen, Friedensinitiative, Umweltinitiative und letztlich auch die Initiative Friedliche Revolution von Christen ausgegangen ist in der früheren DDR?
Ziemer: Ich glaube nicht, dass man das nur sagen kann. Natürlich, in den Kirchen gab es eine, zum Beispiel in der Friedensfrage, gab es eine lange Tradition, da spielt schon das, was von den Kirchen ausgeht, eine große Rolle. Schon von den 60er-Jahren an, als es um die Bausoldaten ging in der neugeschaffenen nationalen Volksarmee der DDR, da haben Christen über den Friedensdienst nachgedacht. Also, das war ein Thema. Aber es war ja nicht nur das Thema der Christen. Es war das Thema, das dann natürlich auch die Gesellschaftsbreiten bewegt hat, aber in den Kirchen ist es bewusst weitergetrieben worden, auch bewusst reflektiert worden, in Gottesdiensten, in Seminaren, in Werkstätten. Aber diese Bewegung, dass das auf einmal so viele Menschen betrifft, das hat nicht die Kirche verursacht, es war in der Luft. Und ich denke, das ist eine Bewegung, die zurecht die Losung, dieses Herbstes 1989 gewesen ist am Anfang, "Wir sind das Volk". Das war die Konstitution des Volkes als ein politisches Handlungssubjekt. Es ist ja durch diese Art von Demonstrationsbewegung, die ja in allen Städten des Landes sich vollzogen hat. Man redet von Leipzig und von Berlin und vielleicht von Plauen, mal von Dresden, aber dass es im ganzen Land, das gegeben hat, das ist jetzt schon eine erstaunliche Entwicklung, das ist das Faszinierende, dass das überall passierte. Und dass dann die Kirchen selbstverständlich irgendwie dabei waren.
Fritz: Aber das ist ja durchaus eine Rolle auf die man rückblickend doch stolz sein könnte. Man hat so den Eindruck, die evangelische Kirche ist das sehr zurückhaltend. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Ziemer: Ich denke, dass wir uns als Kirche in dieser Friedlichen Revolution recht ordentlich verhalten haben, sage ich mal. Und ich meine, dass in dem Sinne, dass wir keine eigenen Interessen verfolgt haben. Später haben mich häufig Menschen gefragt: "Warum hat es denn eigentlich nicht eine Erweckung gegeben in Ostdeutschland? Warum sind danach nicht die Kirchen voll gewesen?" Das hat damit zu tun, dass die Kirche ganz selbstlos in dieser Zeit sich um das gekümmert hat und besorgt hat und teilgenommen hat und geholfen hat, wo sie konnte, dass dieser Prozess ein wirklich, ein friedlicher, ein vorangehender Prozess bleibt. Und diese Selbstlosigkeit finde ich, die ist schon etwas, für das wir uns nicht schämen müssen. Und das ist ja nicht zufällig, dass danach, als dann der Prozess der Vereinigung losging, die Interessen wieder wuchsen, auch die eigenen Interessen und dann auf einmal auch der Bezug zu den Menschen eher verloren gegangen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.