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Mauerschicksale

Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, ließ die Regierung der DDR die Sektorengrenze in Berlin abriegeln und legte damit den Grundstein für die Berliner Mauer. 28 Jahre lang trennte die Mauer Bekannte, Freunde und Familien voneinander, sperrte Menschen ein und bedeutete für viele den Tod.

Von Thomas Gith | 11.08.2011
    Es ist ein später Sommerabend am Samstag, den 12. August 1961. Die Brüder Günter und Jürgen Litfin fahren mit der S-Bahn zurück in den Berliner Ostteil, nach Weißensee, dorthin, wo sie leben. Ihre Mutter begleitet sie – zusammen hatten die drei den Samstag bei Verwandten in Westberlin verbracht. Bei ihrer Rücktour nach Ost-Berlin ist noch alles ruhig – kurze Zeit später wird sich das ändern.
    Denn in der Nacht zum 13.08. marschieren an der innerstädtischen Sektorengrenze plötzlich kriegsmäßig ausgerüstete Polizeiverbände und Kampftruppen auf. Binnen weniger Stunden riegeln sie die Grenze ab, schließen die Übergänge. Jürgen Litfin erfährt das wenige Stunden später - aus dem Radio.

    "Ich habe morgens die Nachrichten gehört, um sieben Uhr. Und dort wurde das mitgeteilt, dass die Grenzen zugemacht werden. Daraufhin habe ich meinen Bruder wachgerüttelt, im Bett, und sag komm, komm, komm, wir fahren mit den Fahrrädern los. Und da sind wir mit den Fahrrädern fast die ganze Grenze abgefahren und dann haben wir dieses ganze Volk gesehen: Volkspolizei, in der Mitte stand die Armee der DDR und an der Grenze, unmittelbar zum Westen, war die Stasi. Und du durftest nicht lange stehen, du wurdest sofort weitergejagt, das war der 13.08."

    Über Nacht sind die Brüder von ihren Freunden und Verwandten im Westteil der Stadt abgeschnitten. Doch nicht nur das: So wie viele andere tausend Ostberliner pendelt Günter Litfin zu dieser Zeit fast täglich in den Westteil der Stadt. Ende August 61 wollte er sogar ganz nach Westberlin ziehen, erzählt sein Bruder Jürgen.

    "Mein Bruder hatte in Westberlin gearbeitet, als Damen- und Herrenmaßschneider, im Modeatelier Krocol und hat denn sich eine Wohnung genommen in der Suarezstraße, das war alles vorbereitet. Und wir waren Ende Juli das letzte Mal in der Wohnung, als wir noch seine Nähmaschine rüber gebracht haben. Und mein Bruder war so happy über seine Wohnung, Gardinen hingen schon und alles, also er war fertig zum Einziehen. Ja, und dann kam der 13.8. dazwischen."

    Wie Tausende andere Ostberliner ist der 24-jährige Günter Litfin urplötzlich von seiner Arbeit abgeschnitten, kann nicht mal mehr zu seiner neuen Wohnung fahren. Er will flüchten – und wird schon bald darauf weltweit Schlagzeilen machen.

    In den ersten Tagen nach dem Mauerbau gelingt weiterhin zahlreichen Menschen die Flucht aus der DDR. Fluchten, die die SED durch den Mauerbau eigentlich verhindern wollte. Hatten seit 1949 doch bereits rund 2,7 Millionen Menschen die DDR Richtung Westen verlassen. Der Historiker Hans-Hermann Hertle sieht den Mauerbau daher als Versuch des SED-Regimes, die eigene machtpolitische Existenz zu sichern.

    "Die DDR wäre sicherlich ohne die Abriegelung der Sektorengrenze und den Bau der Mauer ausgeblutet, wie man damals sagte, sie hätte diesen Flüchtlingsstrom nicht länger ertragen können und nur durch die Mauer war die weitere Existenz der DDR abzusichern. Die DDR stand wirtschaftlich, auch durch die Abwanderung und durch die Fluchtbewegung, vor dem Zusammenbruch."

    Geheime Pläne, die Grenze in Berlin abzuriegeln, gab es in der SED bereits seit Langem. Und Walter Ulbricht hatte in Moskau auch mehrfach darüber gesprochen – doch Chruschtschow hatte stets abgelehnt. Er hoffte stattdessen, dass die SED bessere Lebensbedingungen für ihre Bürger schaffen würde, um so eine Mauer zu vereiteln, sagt die US-Professorin Hope Harrison. Die Historikerin hat die entsprechenden historischen Quellen akribisch ausgewertet und eine umfangreiche Monographie zum Thema geschrieben.

    "Die deutsch-deutsche Grenze war im Sommer 1952 geschlossen. Nachher war Berlin der einzige Ort in Deutschland überhaupt, wo man sich frei bewegen konnte. Und eigentlich seit 1952 wollte die SED-Spitze, besonders Ulbricht, diese Löcher schließen. Moskau hat gesagt, wir alle werden einen ganz schlechten Ruf haben, wenn wir die Grenze schließen, das machen wir nicht. Und für acht Jahre lang hat Moskau gesagt: Nein!"

    Anfang der 60er-Jahre schließlich willigte Chruschtschow ein. Denn aus Sicht Moskaus war die DDR zu diesem Zeitpunkt anders nicht mehr zu retten. Der drohende wirtschaftliche Zusammenbruch und weitere Abwanderung waren für die Machteliten in Moskau und Ostberlin zu bedrohlich geworden.

    Durch den Mauerbau sah die SED-Elite ihre Existenz nunmehr gesichert und sie gab sich daher teilweise einem regelrechten Machtrausch hin, sagt der Historiker Gerhard Sälter, der seine These durch aktuelle Quellenstudien belegen kann. Doch nicht nur das.

    "Dann gibt es, direkt nach dem Mauerbau, eine Phase von zwei, drei, vier Wochen, das wissen wir noch nicht so genau, wo es wirklich zu Gewaltexzessen kommt. Das bedeutet, Leute die Westfernsehen schauen, Leute, die sich negativ über den Mauerbau äußern, werden direkter physischer Gewalt ausgesetzt. Oder welche, die nicht zur Armee wollen, da gibt es ganz viele Beispiele. Es gibt von der zentralen SED-Führung so eine Art Freibrief in dieser Zeit. Das wird im September ungefähr wieder zurückgefahren, aber in der Zeit können und meinen lokale Funktionäre, jetzt auch mit direkter Gewalt ihren Machtanspruch in der Bevölkerung durchzusetzen."

    Leute werden auf offener Straße verprügelt, junge Männer, die sich nicht zur Armee melden wollen, werden bedroht, drangsaliert, geschlagen. Gerhard Sälter konnte zahlreiche solcher Beispiele recherchieren. Nach einigen Wochen werden diese Gewaltexzesse beendet – denn das SED-Regime spürt, dass ihm die Basis in der Bevölkerung noch weiter wegbricht.

    Viele Menschen in der DDR reagieren unmittelbar nach dem Mauerbau mit einer Mischung aus Schock und Resignation. Doch die staatlichen Akten zeugen auch von Protesten, sagt der britische Historiker Patrick Major.

    "Da gab es Jugendliche an der Sektorengrenze, die mit Gewalt über die Grenze wollten, aber sie wurden zurückgedrängt von der Volkspolizei. Dann gab es eine Art passiven Widerstand in den Betrieben, an dem Montag danach gab es eisiges Schweigen, das findet man in den Berichten, das die Parteifunktionäre aus der Betriebsgemeinschaft quasi ausgeschlossen wurden. Es gab einige Sabotageakte, aber nicht in größerem Umfang. Also die Sicherheitskräfte der DDR konnten das in Griff halten, sie waren vorbereitet, die Bevölkerung wurde überrumpelt."

    Für Günter Litfin sind die Tage nach dem Mauerbau wohl vor allem von einem Gedanken geprägt: Er plant die Flucht nach Westberlin, erzählt seiner Familie aber nichts davon. Denn die bekäme Schwierigkeiten, wenn sie als Mitwisser entdeckt würde, sagt sein Bruder Jürgen Litfin heute.
    Am 24. August 1961, elf Tage nach dem Mauerbau, ist es soweit: Gegen 16 Uhr versucht Günter Litfin an der Spree von Ost- nach Westberlin zu gelangen – so zumindest steht es in Berichten der Ost-Berliner Volkspolizei.

    "Mein Bruder ist hin zur Charité, hat das Fahrrad irgendwo abgestellt, ist runter gelaufen bis zum Wasser, ist unter die alte Brücke vierzig Meter noch gelaufen, wurden oben von der Brücke angesprochen: 'Halt, oder wir schießen!' Daraufhin ist mein Bruder spontan ins Wasser gesprungen und wollte rüber auf die Westseite schwimmen, wo jetzt die Bahnhofshalle ist. Und das wusste ja keiner, das die den Schießbefehl hatten. Und publik hat das mein Bruder gemacht, indem durch seine Flucht alle Bescheid wussten, es wird geschossen an der Grenze."

    Günter Litfin stirbt bei seiner Flucht durch einen Schuss in den Hinterkopf. Drei Stunden später ziehen Ost-Berliner-Feuerwehrleute seine Leiche aus dem Wasser. Der 24-jährige ist der erste Mensch, der an der Berliner Mauer erschossen wird. Sein Bruder Günter hört, dass es einen Toten gegeben hat, weiß zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, dass es sich um Günter handelt. Tags drauf wird Jürgen Litfin in Arrest genommen.

    "Am 25. bin ich verhaftet worden, S-Bahnhof Prenzlauer Allee, als ich von der Arbeit kam und wurde in die Kreibelstraße verbracht, denn dort hatte auch die Stasi ihre Verhörzimmer. Und fragten dann die ganze Zeit: Verwandte im Westen, Freundschaften im Westen, und, und, und, da wollten sie Adressen haben und ... Also dieses ganze Spielchen ging genau bis drei Uhr, am 26. früh. Dann haben sie mich laufen lassen, ich kam nach Hause und in der Zeit hat die Stasi die ganze Wohnung auseinander genommen von meiner Mutter."

    Erst am nächsten Tag erfahren die Angehörigen, das Günter tot ist: Die Information bekommen sie zufällig durch die West-Berliner Fernsehsendung "Abendschau", die über den Todesfall berichtet.
    Nur zwei Tage vor Günter Litfins Tod hatte das SED-Politbüro einen folgenreichen Beschluss gefasst: Wer Gesetze der DDR verletze, könne, wenn erforderlich, auch mit der Waffe zur Ordnung gerufen werden, heißt es damals. Für Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung ein zumindest indirekter Schießbefehl.

    "Es gab nicht den Befehl, Flüchtlinge zu töten schriftlich. Aber die Anweisung, die dann erfolgt ist, bei Dienstantritt an die Grenzsoldaten, lautet, Grenzverletzter sind festzunehmen oder zu vernichten. Und in der Ausbildung der Grenzsoldaten wurde den Soldaten klar gemacht, dass sie Fluchten eben auch mit der Anwendung der Schusswaffe zu unterbinden haben. Und in so fern war das ein Erlaubnistatbestand."

    Einen Monat später, am 20. September 1961, ordnete Erich Honecker außerdem an, das – so wörtlich – 'gegen Verräter und Grenzverletzer die Schusswaffe anzuwenden' sei. Günter Litfin blieb nicht das letzte Maueropfer. Allein 1961 starben 12 Menschen an der Berliner Mauer: Sie wurden erschossen, ertranken auf ihrem Weg in den Westen oder verletzten sich beim Fluchtversuch tödlich.

    Lange Zeit wurde darüber gestritten, wie viele Menschen bis 1989 an der Berliner Mauer starben: Die Zahlen reichten von 86 bis weit über 200. Vor zwei Jahren schließlich erschien eine Studie, die vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer herausgegeben wurde. Projektleiterin der Studie war unter anderem Maria Nooke.

    "Also der Auslöser dafür, dass wir das sehr intensiv untersucht haben, wie viele Menschen hier an der Grenze gestorben sind, war ja, dass es sehr unklare Zahlenangaben gab. Und wir haben eben diese Kriterien festgelegt, dass es im Zusammenhang mit dem Grenzregime oder im Zusammenhang mit einer Flucht passiert sein muss. Und die 136 Todesopfer, die wir gefunden haben und deren Biografien wir geschrieben haben, sind für Berlin relevant, es kann sich lediglich noch um ganz wenige Todesfälle ändern, wenn überhaupt."

    Wie viele Menschen außerdem an der innerdeutschen Grenze starben, ist bis heute nicht abschließend untersucht. Maria Nooke geht von 600 bis 800 weiteren Todesfällen aus. Und obwohl Flüchtlinge jederzeit damit rechnen mussten, erschossen zu werden, gab es auch nach dem Mauerbau weiterhin Fluchtversuche – viele davon waren erfolgreich. Allein 1962 gelang es rund 2300 Menschen, die Berliner Mauer hinter sich zu lassen. Und weil die Fluchten auch in den kommenden Jahren anhielten, verstärkte das SED-Regime die Berliner Mauer ab Mitte der 60er-Jahren kontinuierlich. Stacheldraht wurde durch Beton ersetzt, der Grenzstreifen ausgedehnt. Hans-Herrmann Hertle.

    "Das Ziel der weiteren Perfektionierung war es dann, den Todesstreifen auf der einen Seite zu verbreitern und zu vergrößern, aber genauso durch das Zusammenwirken von Stasi, Grenztruppen und Volkspolizei schon zu verhindern, dass Fluchtwillige überhaupt noch an diese Grenze herankommen. Und das ist durch ein verhältnismäßig raffiniertes System von elektronischen Alarmanlagen und Vorfeldsicherung der Mauer in hohem Maße gelungen. Die erfolgreichen Fluchten haben seit 1967 extrem abgenommen."

    Historiker sprechen von insgesamt vier Generationen der Berliner Mauer: Während die ersten beiden Generationen vor allem aus Hohlblocksteinen und Straßenbauplatten errichten wurden, folgte anschließend die Plattenbauweise. Die bis heute bekannten, meterhohen Betonsegmente – Symbole für die Berliner Mauer schlechthin - wurden ab Mitte der 1970er-Jahre errichtet. Und dennoch: Trotz Beton, trotz Verfolgung und Schüssen - vereinzelte erfolgreiche Fluchten gelangen weiterhin. Sie zu vermeiden, wurde zunehmend heimlicher Staatszweck der DDR, sagt der Historiker Gerhard Sälter.

    "Also die Flüchtlinge nehmen das Risiko ganz erheblicher Gefährdung auf sich. Und das ist ein extremes Symbol. Und jede individuelle Flucht, und da gibt es sehr schöne Belege von Erich Mielke, von Ulbricht auch, jede einzelne Flucht ist eine Niederlage, so sehen die das von der SED-Führung. Und dann bauen sie immer diese Grenzanlagen weiter aus – und es kommen immer noch welche durch. Es wird zunehmend wichtiger für die SED, dass es nicht mehr passiert. Und das könnte man eben formulieren, das wird so ein bisschen der heimliche Staatszweck, das durchdringt alle Bereiche."

    Ab Ende der 70er-Jahre ist es sogar erklärtes Ziel, Fluchtwillige möglichst direkt bei Verlassen der Wohnung festnehmen. Außerdem muss jeder, der Fluchtwillige unterstützt, mit drastischen Strafen rechnen. Auch Jürgen Litfin bekommt das 1980 zu spüren. Er will Möbel für seine damals 19-jährige Tochter kaufen und meldet sich auf eine entsprechende Zeitungsanzeige: Demnach soll eine Privatwohnung aufgelöst werden.

    "Da bin ich mit meiner Tochter hingefahren, habe die Sachen gekauft, das war Anfang September. Und genau eine Woche vor Weihnachten bin ich verhaftet worden, wegen Beihilfe zur Republikflucht. Von dem ich hier diese Möbel kaufte, hat zu uns gesagt, er löst die Wohnung seiner Tante auf, damit die weiter vermietet werden kann und in Wirklichkeit wollte er abhauen. Und somit war ich Fluchthelfer, weil ich mit meinem Geld seine Flucht unterstützt habe und meine Frau haben sie verdonnert wegen Mitwisserschaft. Die hätte mich anzeigen müssen, weil ich Möbel gekauft habe."

    Jürgen Litfin kommt in Haft, wird 1981 schließlich von der BRD freigekauft und zieht zusammen mit seiner Frau in den Westen. Bei seinen Freunden in der DDR meldet er sich nicht mehr – um sie nicht unnötig zu gefährden. Erst nach dem Mauerfall trifft er sie wieder. So wie ihm ging es zahlreichen Menschen: Auch deshalb war die Berliner Mauer für viele DDR-Bürger ein verhasstes Symbol der Unfreiheit. Als sie 1989 von der Bevölkerung niedergerissen wird, verschwinden die Betonsegmente daher binnen weniger Monate aus dem Stadtbild. Der antiimperialistische Schutzwall, wie er vom DDR-Regime in Verkehrung der Tatsachen genannt wurde, hatte 28 Jahre lang nur einen Zweck: Die Bürger der DDR einzusperren. Maria Nooke.

    "Die Mauer ist eigentliches eines von zwei zentralen Bedingungen für die Existenz der DDR. Das ist einmal die sowjetische Herrschaft gewesen und auf der anderen Seite die Mauer, die die Menschen eben im Land gehalten hat. In dem Augenblick, wo die Mauer gefallen ist, ist auch das System zusammengebrochen. Die DDR hat nur noch wenige Monate existiert."

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    Sammelportal 50 Jahre Mauerbau
    Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Errichten der Berliner Mauer im Norden Berlins an der Grenze zum Westberliner Bezirk Reinickendorf.
    Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Errichten der Berliner Mauer im Norden Berlins an der Grenze zum Westberliner Bezirk Reinickendorf. (picture alliance / dpa)
    Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee, rechts, der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beaufsichtigt.
    Ein Soldaten der Nationalen Volksarmee beaufsichtigt einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer an der Bernauer Straße (AP)