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Max Frisch im Doppelpack

Im Vorfeld des 100. Geburtstages Max Frisch sind gleich zwei Biografien über den Schriftsteller erschienen. Die Werke von Volker Weidermann und Ingeborg Gleichauf unterscheiden sich allerdings deutlich voneinander.

Von Ursula März | 18.01.2011
    "Ich bin nicht Stiller" - wer kennt ihn nicht, diesen berühmten Anfangssatz des wohl berühmtesten Romans von Max Frisch aus dem Jahr 1954. Und wer hätte ihn nicht ein bisschen über, diesen Satz, der seit zwei, drei Generationen als Vorlage für die Erörterung moderner Identitätsproblematik im Deutschunterricht der gymnasialen Mittelstufe dient.

    Dem Kanon schulischer Pflichtlektüre anzugehören ist für die Rezeptionsgeschichte eines literarischen Werks eine zweischneidige Nobilitierung. Was sich für die geistige Bildung Sechzehnjähriger empfiehlt, hat gute Chancen darauf, als wertvoll, aber auch ein bisschen reizarm, literaturgeschichtlich abgelegt zu gelten, als Klassiker, dessen diskursiver Reizstoff verglüht ist. Gegen die Neuentdeckung und Neubewertung Max Frischs in einer Biografie spricht allerdings noch etwas anderes, nämlich die Poetik ausgiebiger Selbstdarstellung und autobiografischer Selbstinterpretation, auf dem das Werk des Schweizers beruht, dessen Geburtstag sich am 15. Mai des kommenden Jahres zum hundertsten Mal jährt.

    Mit "Montauk", einer schmalen, unverstellt persönlichen und intimen Erzählung, die bei ihrer Veröffentlichung 1975 wegen der Radikalität ihrer authentischen Lebensauskunft heftig umstritten war, schuf Frisch ein Musterbeispiel der Wahrhaftigkeitsliteratur, die auf alle Fragen, die ein Biograf stellen könnte, bereits Antworten gibt. Ingeborg Bachmann, mit der Max Frisch von 1958 bis 1962 ein dramatisches Liebesverhältnis hatte, heißt hier eben auch Ingeborg Bachmann. Nun sind im Vorfeld des 100. Geburtstages Max Frischs gleich zwei, wenn auch sehr unterschiedliche Biografien über ihn erschienen, eine von Ingeborg Gleichauf, die über Ingeborg Bachmann promoviert und sich als Verfasserin von Jugendbiografien einen Namen gemacht hat, und eine des Literaturkritikers Volker Weidermann, leitender Redakteur des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dessen stilistisch rasante, emphatisch subjektive Geschichte der deutschen Literatur seit 1945 vor vier Jahren unter dem Titel "Lichtjahre" erschien und neben ihrem Markterfolg eine veritable Kontroverse der deutschen Literaturkritik erzielte.

    Weidermann, 1969 geboren, gilt als Vertreter einer jüngeren Kritikergeneration, die das theoretische Instrumentarium nüchterner Textanalyse zugunsten des persönlich pointierten, temperamentvollen Zugriffs auf Literatur verabschiedet. Dass sich gerade Weidermann einem Schriftsteller widmet, dessen Werk er von der schulischen Pflichtlektüre an kennen dürfte, erstaunt nur auf den ersten Blick.

    "Mit Max Frisch ist man nie am Ende. Das ist der Zauber seines Werks. Er hat sich immer wieder neu erfunden, hat die Beweglichkeit seines Denkens, die Zweifel an sich selbst in seine besten Bücher immer mit hineingeschrieben. Das hält sie lebendig, das macht sie modern. Max Frisch ist bis heute einer der modernsten Autoren der deutschsprachigen Literatur geblieben. Weltläufig, wie sehr er auch an seinem kleinen Heimatland hing und mit ihm haderte, politisch, wie radikal er im Alter seine politischen Wirkungsdramen auch infrage stellte. Er war maximal subjektiv und prägte dabei doch das kollektive Gedächtnis der Schweiz und vor allem Nachkriegsdeutschlands wie kaum ein zweiter Autor".

    Nicht maximal, aber doch entschieden subjektiv, kommentar- und urteilsstark ist Weidermanns Zugriff auf Leben und Werk Max Frischs. Das Temperament des Biografen drückt sich nicht nur stilistisch aus, sondern auch in der mitunter ausgesprochen kritischen Haltung des Biografen zu seinem Objekt. Weidermann entwirft am Beispiel Frisch das Bild des modernen Schriftstellers als Wesen mit Widersprüchen persönlicher wie politischer Natur. Der Fluchtpunkt seiner Biografie ist Frischs unaufhörliche, unabschließbare Arbeit auf der Baustelle seiner Identität. Jedes Lebensalter, jede Lebenswendung bringt einen neuen Plan, einen neuen Selbstentwurf hervor. Für den Leser sind die frühen Entwürfe die interessantesten, denn es sind die unbekanntesten. Max Frisch - wie wir ihn kennen - ist der linksintellektuelle, engagierte Autor mit Welterfolg, der Autor der 50er, 60er, 70er-Jahre. Aber wer war Max Frisch vorher?

    "Max Frisch 1933 - unterwegs in der Welt. Es ist aus heutiger Sicht überraschend, dass man als deutschsprachiger Journalist und kommender Schriftsteller aus der Schweiz sich zwei Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland auf den Weg in die Welt machen kann und weder in den journalistischen Texten noch in den Briefen an die Mutter diesem Ereignis irgendeine Bedeutung beimisst."

    Max Frisch als junger Mann: Er lebt noch bei seiner Mutter, was vor allem in finanzieller Beklemmung begründet ist, schreibt erstaunlich sentimentale Romane, ist erstaunlich schweiznationalistisch, erstaunlich kulturbürgerlich und erweist sich bei seinem ersten längeren Auslandsaufenthalt, der ihn nach Osteuropa führt, als erstaunlich verblasen, ja überheblich.

    "Der junge Herr aus der sauberen Schweiz, der manche Unordentlichkeit im östlichen Ausland kritisch vermerkt, reagiert besonders ungehalten auf Bettler, Obdachlose, arme Menschen, die dem Touristen das schöne Stadtbild verschandeln. Schon gleich in Prag fängt der Ärger an: `Wenn es bloß nicht diese Elendsfiguren gäbe! In allen Prager Straßen warten sie, um sich unserer noch so bescheidenen Glücksstimmung in die Wege zu werfen. Da sind Weiber mit Säuglingen im Arm und Krüppel, welche ihre Schauerlichkeiten entblößen. Und Blinde, die an einem peinlich dummen Leierkasten drehen. Und Greise, die am Rinnstein sitzen und mit rostiger Stimme zu singen versuchen. Das ist schlimm und man gewöhnt sich nicht daran`. Schlimm für den Touristen und seine bescheidene Glücksstimmung. Nicht etwa für die Armen."

    Grammatikalisch verwendet Volker Weidermann das Präteritum, dennoch liest seine Max-Frisch-Biografie bisweilen, als sei sie im Präsenz verfasst, Szenen und Situationen, der ganze Stoff rückt nah an die Gegenwart heran. Das macht die Lektüre des Buches außerordentlich spannend. Dass Weidermann trotz dieser erzählerischen Nähe nicht ins Affirmative fällt, sondern die Distanz autonomer Betrachtung einhält, ist eine der Qualitäten seiner Biografie, eine andere die enorme Rechercheleistung.

    Dass Volker Weidermann die amerikanische Frau ausfindig machte, sie traf und mit ihr den Ausflug nach Montauk unternahm, den Max Frisch in der gleichnamigen Erzählung beschreibt, ist eine aparte, erfreuliche Episode. Gewichtiger ist das Material, das der Rechercheur aus Max Frischs jungen Künstlerjahren zu Tage fördert. Weidermanns Vermögen, die Lebensbühne zu beschreiben, auf der literarische Werke entstehen, ist brillant - seiner Lust an der Auslegung der Werke selbst voraus. Das war in "Lichtjahre" nicht anders als jetzt in der Biografie Max Frischs. Natürlich stellt Weidermann das Werk des Autors, die Romane, Tagebücher, die zahlreichen Bühnenstücke ausführlich dar. Aber seine Stärke ist das Lebensszenario.

    "Jetzt trafen sich alle zu einem freundschaftlichen Kollegenabend in Frankfurt: Unseld, Enzensberger, Walser und Uwe Johnson, Frischs späterer Lektor. Es wurde viel geredet und vor allem viel getrunken, Frisch fühlte sich wohl im Kreis der Kollegen, die er nicht allzu häufig sah und mit denen ihn auch nicht wirklich eine Freundschaft verband. Aber eine Vertrautheit, der Wille zur Vertrautheit, der sich vor allem im betrunkenen Zustand äußert. So vertraut war es geworden, dass Frisch sich genötigt fühlte, sich danach schriftlich bei jedem der Mittrinker einzeln zu entschuldigen. An Enzensberger: "Natürlich hatte ich im Lauf der Nacht zu viel getrunken, was keine Entschuldigung ist, sondern der Fehler selbst, und ich war selbst bestürzt, als ich mich hörte".

    Gleichzeitig mit Volker Weidermanns Werk erscheint unter dem Titel "Jetzt nicht die Wut verlieren" eine zweite Frisch-Biografie von Ingeborg Gleichauf. Der Vergleich der beiden Bücher fällt fatal zu ihren Ungunsten aus. Denn es handelt sich um eine Nacherzählung bekannter allgemein bekannter Tatsachen und Lebensumstände, die im fast mädchenhaften Ton gefühlter Vergegenwärtigung gehalten ist. Die Grenze der Peinlichkeit erreichen Fantasiegespräche der Autorin mit Max Frisch am Anfang und Ende des Buches.

    "Und so versuche ich es ein letztes Mal: Max, hören Sie, schenken Sie mir noch ein wenig Zeit, nicht lange, ich verspreche, ich lasse Sie dann in Ruhe. Ich will Sie ein paar Dinge fragen, Dinge, sie Sie interessieren müssten, so, wie Sie sich mir vorgestellt haben und mir Einblicke gewährten in Ihr Lebensgefühl, Ihr Denken, Ihre literarische Arbeit."

    Ingeborg Gleichaufs Biografie über Max Frisch ist eher für Jugendliche geeignet als für erwachsene, literarisch geschulte Leser, allerdings ist die Frage, ob heutige Jugendliche der versöhnlichen Behaglichkeit ihrer Schreibweise allzu viel abgewinnen können.


    Volker Weidermann: "Max Frisch, sein Leben, seine Bücher"
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2010. 401 Seiten, 22.95 Euro

    Ingeborg Gleichauf: "Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie"
    Verlag Nagel & Kimche. 269 Seiten. 18.90 Euro
    Cover: Volker Weidermann: "Max Frisch, sein Leben, seine Bücher"
    Cover: Volker Weidermann: "Max Frisch, sein Leben, seine Bücher" (Kiepenheuer&Witsch)
    Cover: Ingeborg Gleichauf: "Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie".
    Cover: Ingeborg Gleichauf: "Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie". (Nagel und Kimche Verlag)