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Maximal 30 Nanometer Abweichung

Astronomie. - Am 5. Oktober 1962 gründeten fünf Staaten Europas die Europäische Südsternwarte Eso. Ein halbes Jahrhundert später ist aus einer kühnen Vision eine große Erfolgsgeschichte geworden. Eso arbeitet an der vordersten Front der Astronomie. Mit ihrem neuen 39-Meter-Teleskop, dem ELT, testen die Astronomen auch die Grenzen der derzeit verfügbaren Fertigungstechnologie.

Von Dirk Lorenzen | 04.10.2012
    Ein Gewerbegebiet nördlich von München: Speditionen, Bürogebäude und jede Menge Lagerhäuser – auf den ersten Blick sieht das kaum nach einem Arbeitsplatz für Astronomen und Teleskopbauer aus. Doch an der Tür einer 50 x 30 Meter großen Halle verrät das blaue Logo der Europäischen Südsternwarte, dass die Forscher hier für ein ganz besonderes Projekt tätig sind – für das ELT, das Extrem Große Teleskop.

    "Hier sind wir in Garching-Hochbrück, wo wir die ELT-Komponenten testen."

    Herr der Halle ist Martin Dimmler. Er leitet die Testeinrichtung für den Hauptspiegel von Europas geplantem Riesenteleskop. Die wichtigste Anlage ist eine gelb gestrichene Konstruktion aus dicken Stahlrohren, vier Meter breit und sechs Meter hoch. Der Ingenieur steigt auf die Arbeitsplattform und zeigt auf vier sechseckige, flache Stücke einer Glaskeramik:

    "Von hier oben sieht man eben die Spiegelsegmente selbst. Später soll der ganze Hauptspiegel etwa 39 Meter betragen. Wir hätten also 200 Mal mehr Fläche hier als jetzt nur beim Teststand. Die Halle wäre fast komplett gefüllt nur mit Spiegelfläche."

    Spiegel mit mehr als acht Metern Durchmesser lassen sich nicht mehr aus einem Stück bauen. Europas extrem großes Teleskop ELT soll daher aus 800 dieser Segmente bestehen, die jeweils fast eineinhalb Meter groß sind und wie Bienenwaben nebeneinander liegen. Aus 800 Teilen ein perfektes Teleskop zu formen, ist extrem schwierig – und so erproben Martin Dimmler und sein Team die nötigen Verfahren.

    "Die Tests dienen dazu, um zu sehen, ob die Schnittstellen funktionieren, ob man die einzelnen Komponenten zueinander ausrichten kann, ob der Zugang zu den Komponenten OK ist, ob die Materialien, die wir ausgewählt haben, korrekt zusammenarbeiten und so weiter. Wir testen alle möglichen Verkabelungsanordnungen und prüfen, ob das Kontrollsystem für so eine Größe von einem Spiegel geeignet ist."

    Nur was sich in der Lagerhalle in Garching bewährt, kommt in etwa zehn Jahren im Instrument in Chile zum Einsatz. Das ELT soll das größte und beste Spiegelteleskop der Welt werden. Die Anlage in der Atacama-Wüste wird zwar mehrere Tausend Tonnen wiegen, doch die Spiegeloberfläche darf maximal nur 30 Nanometer von der Idealform abweichen – das entspricht etwa dem Tausendstel eines Haardurchmessers. Viele würden an dieser Aufgabe verzweifeln, doch für einen aus der Regelungstechnik kommenden Ingenieur wie Martin Dimmler ist dies zugleich Herausforderung und Vergnügen:

    "Wenn man auf ein einzelnes Segment schaut, hat man allein für die Verformung des Segments zwölf Motoren. Dann haben wir drei, um das Segment zu bewegen, und wir haben sechs Sensoren außen herum, die die Position zum Nachbarsegment messen – und das ungefähr mal 1000. Man ist relativ schnell bei einer sehr großen Zahl von Sensoren. Etwa 6000 müssen wir extrem schnell auslesen und etwa 3000 Aktuatoren müssen wir sehr schnell ansteuern. Sehr schnell heißt, bis zu 500 Mal pro Sekunde."

    Alle Teile des Teleskops werden also praktisch ununterbrochen minimal in Bewegung sein, um kleinste Unschärfen auszugleichen und das Instrument fokussiert zu halten. Nur wenn das perfekt gelingt, wird das ELT bis in die fernsten Ecken des Universums schauen und Planeten bei fremden Sternen auf mögliches Leben untersuchen. Die Europäische Südsternwarte hofft auf die Bewilligung der restlichen Finanzmittel für das 1-Milliarde-Euro-Projekt in wenigen Monaten. Politisch mag es beim ELT derzeit etwas haken, technisch sieht Martin Dimmler Europas Riesenauge auf einem guten Weg. Auf die Frage, was er im Juli 2022 machen werde, weiß er sofort eine Antwort.

    "ELT commissioning."

    Commissioning ist der Fachbegriff für die Inbetriebnahme eines Teleskops. Martin Dimmler hat keinerlei Zweifel, dass sein Arbeitsplatz dann nicht mehr die schmucklose Lagerhalle in Garching-Hochbrück sein wird, sondern der Cerro Armazones – der Berg in der Atacama-Wüste, auf dem Europas Astronomen ihre weltweit führende Stellung für die nächsten 50 Jahre behaupten wollen.