Der Perspektivwechsel, den Andrew Port vorschlägt, ist nicht nur intelligent, sondern höchst brisant. Denn in Wirklichkeit startet Andrew Port einen Generalangriff auf die Totalitarismustheorie:
"Ich finde, dass wir inzwischen diesen Begriff 'totalitär' in Bezug auf die DDR wirklich ad acta legen können. Dieser Begriff greift nicht. Die Ansprüche der SED, dieses Staates waren natürlich total, die wollten die Menschen, soweit sie können, total kontrollieren, aber wie die Wirklichkeit aussah, war wirklich ganz anders. Insofern, 'totalitär' ist nicht der passende Begriff."
Port leugnet nicht die Bedeutung von Polizei, Staatssicherheit und Justiz: Aber, so seine These, der repressive Charakter der DDR allein könne die Stabilität des zweiten deutschen Staates nicht hinreichend erklären.
"Der 17. Juni '53, das war der Höhepunkt des Stalinismus. Die Leute hatten die letzten sieben, acht Jahre so viele Erfahrungen gemacht, was Repression betraf, das war ein Volk, das berechtigt viel Angst empfinden musste. Und trotzdem sind die Leute auf die Straße gegangen. '89, das war ein Zeitpunkt, wo die Stasi auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, und trotzdem sind die Menschen auf die Straße gegangen. Insofern kann Repression, kann Angst die Stabilität oder das Ausbleiben von Aufständen, von kollektiver Aktion einfach nicht erklären."
Andrew Port begab sich im Laufe seiner langjährigen Forschungen tief in die Arbeits- und Alltagsgeschichte der DDR hinein, hielt sich zwei Jahre lang in Südthüringen auf, studierte schriftliche Quellen und führte Interviews mit Zeitzeugen. Dabei konzentrierte er sich auf die Ulbricht-Ära, die repressivste Phase der DDR von 1945 bis 1971. Er studierte zahlreiche Eingaben und Beschwerden, sichtete Protokolle von Gewerkschafts-, Betriebs- und Parteiversammlungen, um die Stimmung der Menschen an der Basis zu hören. Sein erstaunlicher Befund: Die DDR war keineswegs eine Ansammlung duldsamer Bürger, sondern vielmehr eine regelrechte "Meckergesellschaft":
"Die haben in der Regel kein Blatt vor den Mund gehalten, das hat mich wirklich damals sehr überrascht. Man wächst auf im Westen, Kalter Krieg, man denkt, dass alle im Osten Schäfchen sind, dass keiner den Mund aufmacht, und ich war wirklich baff, was ich da in den Akten entdeckt habe."
Allerdings, eine Einschränkung ist zu machen: Dieses Meckern bezog sich auf konkrete Alltagssituationen, etwa auf unhaltbare Zustände am Arbeitsplatz, auf Versorgungslücken und Mangelwirtschaft. Es handelte sich dabei also nicht um eine explizit politische Kritik, das wäre zu gefährlich gewesen. Die zweite provokative These: Port bestreitet, dass die DDR weitgehend sozial homogen war, dass also die soziale Gleichheit eines der Hauptmerkmale des "realen Sozialismus" war. Ganz im Gegenteil, seiner Ansicht nach ist die "rätselhafte Stabilität der DDR" gerade darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft entgegen der Aussagen der SED sehr gespalten war:
"Was ich immer wieder gemerkt habe, vor allem in Gesprächen mit Einheimischen, die haben immer wieder gesagt, dass eine andere soziale Gruppe, nicht die ihre, aber eine andere, die waren die 'Könige' in der DDR. Die Arbeiter haben das über die Intelligenzler gesagt, die Intelligenzler haben das über die Handwerker gesagt, 'es ging allen anderen besser als uns'. Und das, glaube ich, hat zu Spaltungen, zu Spannungen, zu Rissen geführt, die kollektive Aktionen gegen den Staat verhindert haben, obwohl die meisten Menschen sehr ähnliche Beschwerden hatten."
Andrew Port lässt die Frage offen, ob diese "tiefe Gespaltenheit" von der SED gewollt war oder sich aufgrund des Lavierens der Funktionäre an der Basis einfach ergab. Auf jeden Fall geht aus seiner Studie deutlich hervor, dass die SED, die sich als "Partei der Arbeiterklasse" verstand, sich mit dieser Arbeiterklasse sehr schwer tat, genauer gesagt: mit deren Disziplinierung. Wobei dies kein ideologisches Problem war, sondern angesichts von Arbeitskräfteknappheit und Mangelwirtschaft ein ganz praktisches.
"Man musste natürlich diesen allmächtigen Plan erfüllen. Um das zu tun, musste man Druck machen, dass die Arbeiter richtig arbeiten."
Andererseits - wiederum ein erstaunliches Resultat von Ports Recherchen – waren die Normen in der Realität gar nicht so hoch: Um die Harmonie zu wahren, ließen sich die Funktionäre vor Ort entgegen den Vorgaben aus Berlin auf erstaunliche Kompromisse ein:
"Die haben die Arbeiter nie zu weit getrieben, die haben gesehen, was am 17. Juni passiert ist. Das hat natürlich dazu geführt, dass diese Gesellschaft ruhig geblieben ist, dass die Arbeiter nie wieder auf die Straße gegangen sind. Aber das war wirklich für die Arbeiter, für die ganze Gesellschaft, was man als Pyrrhussieg beschreiben könnte. Weil die Produktivität blieb niedrig, es mag sein, dass die größte Freiheit in der DDR an den Werkbänken herrschte, aber ein Preis wurde dafür bezahlt. Die Leute haben nicht diese Waren bekommen, die sie sich erwünscht haben."
Die Arbeiter verlangsamten die Produktion, hielten ihre Arbeitskraft zurück und reagierten "weitgehend defensiv stur" und passiv, so stellt Port fest. Nun ist Port als Amerikaner Außenstehender und nicht in dem üblichen Ost-West-Clinch befangen. Das ist zwar einerseits wohltuend - andererseits müsste aber auch er die geläufigen Vorurteile kennen, etwa die Rede der "Wessis" von den "faulen Ossis". Mit seiner These von der enormen "Arbeitszurückhaltung" und den niedrigen DDR-Normen nähert sich Port auf gefährliche Weise solchen Stereotypen an - mindestens solange er nicht betont, dass diese Arbeitszurückhaltung ganz überwiegend systembedingt war, also mit den Engpässen und Widrigkeiten der Planwirtschaft zusammenhing. Abgesehen von diesen Einwänden handelt es sich um ein sehr empfehlenswertes Buch, das auf erfrischende Weise in die Debatte um die DDR-Vergangenheit eingreift und dem eine lebhafte Diskussion zu wünschen ist.
Conrad Lay rezensierte Andrew Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Ch. Links Verlag, 400 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-8615-3577-5.
"Ich finde, dass wir inzwischen diesen Begriff 'totalitär' in Bezug auf die DDR wirklich ad acta legen können. Dieser Begriff greift nicht. Die Ansprüche der SED, dieses Staates waren natürlich total, die wollten die Menschen, soweit sie können, total kontrollieren, aber wie die Wirklichkeit aussah, war wirklich ganz anders. Insofern, 'totalitär' ist nicht der passende Begriff."
Port leugnet nicht die Bedeutung von Polizei, Staatssicherheit und Justiz: Aber, so seine These, der repressive Charakter der DDR allein könne die Stabilität des zweiten deutschen Staates nicht hinreichend erklären.
"Der 17. Juni '53, das war der Höhepunkt des Stalinismus. Die Leute hatten die letzten sieben, acht Jahre so viele Erfahrungen gemacht, was Repression betraf, das war ein Volk, das berechtigt viel Angst empfinden musste. Und trotzdem sind die Leute auf die Straße gegangen. '89, das war ein Zeitpunkt, wo die Stasi auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, und trotzdem sind die Menschen auf die Straße gegangen. Insofern kann Repression, kann Angst die Stabilität oder das Ausbleiben von Aufständen, von kollektiver Aktion einfach nicht erklären."
Andrew Port begab sich im Laufe seiner langjährigen Forschungen tief in die Arbeits- und Alltagsgeschichte der DDR hinein, hielt sich zwei Jahre lang in Südthüringen auf, studierte schriftliche Quellen und führte Interviews mit Zeitzeugen. Dabei konzentrierte er sich auf die Ulbricht-Ära, die repressivste Phase der DDR von 1945 bis 1971. Er studierte zahlreiche Eingaben und Beschwerden, sichtete Protokolle von Gewerkschafts-, Betriebs- und Parteiversammlungen, um die Stimmung der Menschen an der Basis zu hören. Sein erstaunlicher Befund: Die DDR war keineswegs eine Ansammlung duldsamer Bürger, sondern vielmehr eine regelrechte "Meckergesellschaft":
"Die haben in der Regel kein Blatt vor den Mund gehalten, das hat mich wirklich damals sehr überrascht. Man wächst auf im Westen, Kalter Krieg, man denkt, dass alle im Osten Schäfchen sind, dass keiner den Mund aufmacht, und ich war wirklich baff, was ich da in den Akten entdeckt habe."
Allerdings, eine Einschränkung ist zu machen: Dieses Meckern bezog sich auf konkrete Alltagssituationen, etwa auf unhaltbare Zustände am Arbeitsplatz, auf Versorgungslücken und Mangelwirtschaft. Es handelte sich dabei also nicht um eine explizit politische Kritik, das wäre zu gefährlich gewesen. Die zweite provokative These: Port bestreitet, dass die DDR weitgehend sozial homogen war, dass also die soziale Gleichheit eines der Hauptmerkmale des "realen Sozialismus" war. Ganz im Gegenteil, seiner Ansicht nach ist die "rätselhafte Stabilität der DDR" gerade darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft entgegen der Aussagen der SED sehr gespalten war:
"Was ich immer wieder gemerkt habe, vor allem in Gesprächen mit Einheimischen, die haben immer wieder gesagt, dass eine andere soziale Gruppe, nicht die ihre, aber eine andere, die waren die 'Könige' in der DDR. Die Arbeiter haben das über die Intelligenzler gesagt, die Intelligenzler haben das über die Handwerker gesagt, 'es ging allen anderen besser als uns'. Und das, glaube ich, hat zu Spaltungen, zu Spannungen, zu Rissen geführt, die kollektive Aktionen gegen den Staat verhindert haben, obwohl die meisten Menschen sehr ähnliche Beschwerden hatten."
Andrew Port lässt die Frage offen, ob diese "tiefe Gespaltenheit" von der SED gewollt war oder sich aufgrund des Lavierens der Funktionäre an der Basis einfach ergab. Auf jeden Fall geht aus seiner Studie deutlich hervor, dass die SED, die sich als "Partei der Arbeiterklasse" verstand, sich mit dieser Arbeiterklasse sehr schwer tat, genauer gesagt: mit deren Disziplinierung. Wobei dies kein ideologisches Problem war, sondern angesichts von Arbeitskräfteknappheit und Mangelwirtschaft ein ganz praktisches.
"Man musste natürlich diesen allmächtigen Plan erfüllen. Um das zu tun, musste man Druck machen, dass die Arbeiter richtig arbeiten."
Andererseits - wiederum ein erstaunliches Resultat von Ports Recherchen – waren die Normen in der Realität gar nicht so hoch: Um die Harmonie zu wahren, ließen sich die Funktionäre vor Ort entgegen den Vorgaben aus Berlin auf erstaunliche Kompromisse ein:
"Die haben die Arbeiter nie zu weit getrieben, die haben gesehen, was am 17. Juni passiert ist. Das hat natürlich dazu geführt, dass diese Gesellschaft ruhig geblieben ist, dass die Arbeiter nie wieder auf die Straße gegangen sind. Aber das war wirklich für die Arbeiter, für die ganze Gesellschaft, was man als Pyrrhussieg beschreiben könnte. Weil die Produktivität blieb niedrig, es mag sein, dass die größte Freiheit in der DDR an den Werkbänken herrschte, aber ein Preis wurde dafür bezahlt. Die Leute haben nicht diese Waren bekommen, die sie sich erwünscht haben."
Die Arbeiter verlangsamten die Produktion, hielten ihre Arbeitskraft zurück und reagierten "weitgehend defensiv stur" und passiv, so stellt Port fest. Nun ist Port als Amerikaner Außenstehender und nicht in dem üblichen Ost-West-Clinch befangen. Das ist zwar einerseits wohltuend - andererseits müsste aber auch er die geläufigen Vorurteile kennen, etwa die Rede der "Wessis" von den "faulen Ossis". Mit seiner These von der enormen "Arbeitszurückhaltung" und den niedrigen DDR-Normen nähert sich Port auf gefährliche Weise solchen Stereotypen an - mindestens solange er nicht betont, dass diese Arbeitszurückhaltung ganz überwiegend systembedingt war, also mit den Engpässen und Widrigkeiten der Planwirtschaft zusammenhing. Abgesehen von diesen Einwänden handelt es sich um ein sehr empfehlenswertes Buch, das auf erfrischende Weise in die Debatte um die DDR-Vergangenheit eingreift und dem eine lebhafte Diskussion zu wünschen ist.
Conrad Lay rezensierte Andrew Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Ch. Links Verlag, 400 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-8615-3577-5.