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Medici Groschengrab

"Eine weiße Taube pickt auf den Marmorstufen der Bücherei, bewacht von zwei Löwen aus Stein. Es ist wie ein Traum, dachte ich. Darauf sah ich, wie sie auf dem Tisch des Wahrsagers vor einem Ladenfenster auf die Augen des Herzkönigs einpickte. Darauf landete sie auf der Schulter eines schwarzen Mannes, der bei Tagesanbruch die Sixth Avenue entlangfuhr."

Denis Scheck |
    Sein deutscher Übersetzer Hans Magnus Enzensberger nannte die Gedichte von Charles Simic einmal "die amerikanischsten, die man sich vorstellen kann."

    Amerikanisch mutet zuallerst die ganz und gar unprätentiöse, am Alltagsidiom orientierte Sprache dieser Lyrik an. Er wolle Gedichte schreiben, bekannte Simic, "so schlicht und schnörkellos, daß es auch der unbewandertste Leser auf Anhieb versteht."

    Amerikanisch sind aber auch die Beobachtungen und Bildausschnitte, die Simic als Ausgangspunkt vieler seiner Gedichte wählt: ein Betrunkener auf der Bowery, das Foto eines vermißten Kindes auf einer Milchtüte, eine Epiphanie auf der Fifth Avenue, die Auslagen einer Pfandleihe, die Statuen der ägyptischen Löwen vor der New York Public Library, ein osteuropäisches Lokal auf der Second Avenue.

    Doch wie "eine Unterzeichnung des Schreckens" liegt hinter dieser amerikanischen Oberfläche in Simic' Gedichten die Erfahrung des Krieges. 1938 als Dusan Simic in Belgrad geboren, kam er erst als 16jähriger nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich in die Vereinigten Staaten, ein kriegsmüder Flüchtling, der sich begierig auf Jazz, den abstrakten Expressionismus und all die anderen Wunder der Neuen Welt einließ. Auch wenn er seine europäische Identität nur zu gern gegen die amerikanische eintauschte, zurück blieb ein tiefsitzender Geschichtspessismus, in jüngerer Zeit tagtäglich bestärkt durch die Barberei in seiner jugoslawischen Heimat. In seinem Gedichtband "Ein Buch von Göttern und Teufeln" und in dem autobiographischen Essay "Die Fliege in der Suppe" zeichnete Simic ein Bild von sich als "Versuchstier" dieses Jahrhunderts und wunderte sich nur, "daß eine der Ratten Gedichte schrieb."

    Lakonisch, von ehrfurchtslosem Staunen geprägt ist auch Simic' Ton in "Medici Groschengrab":

    "Unser engelhafter Vorfahr Rimbaud hätte nach Amerika anstatt zum Tschadsee gehen sollen. Er wäre hundert Jahre alt und stöberte in einem Discount.Laden herum. Sagte er nicht, er möge dämliche Gemälde, Schilder, volkstümliche Stiche, erotische Bücher voller Fehler, Romane unserer Großmütter? Arthur, du armer Kerl, du wärest die ganze Fourteenth Street entlanggezogen und hättest bestimmt viele "Illuminationen" mehr geschrieben. Dichtung: drei nicht zusammenpassende Schuhe am Anfang eines schwarzen Ganges."

    Der neue Gedichtband von Charles Simic ist ein Stück Programmusik. Fasziniert von Jackson Pollock, Willem de Kooning und Franz Kline wollte Simic ursprünglich Maler werden, nun spürt er dem wohl rätselhaftesten amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts nach: Joseph Cornell.

    Mit seinen Kästen schuf der 1903 geborene, 1972 gestorbene Cornell Wunderwerke der Assoziationskunst, kombinierte scheinbar Unzusammenpassendes und inszenierte eine zweite Wirklichkeit, deren Reiz gerade in der Unausdeutbarkeit ihres fein konstruierten Beziehungsgeflechts liegt.

    Die Begegnung zwischen dem Lyriker Simic und dem Künstler Cornell offenbart unerwartete Geistesverwandtschaften. Nicht die geringste ist ihr urbanes Naturell: beide verkörpern den Typus des Künstlers als Pflastertreter. Cornells Phantasie speiste sich aus Alltagsbeobachtungen, das Treibgut der Großstadt lieferte ihm die Fundstücke zu seinen Assemblagen. Ein der Dichtung durchaus verwandtes Verfahren, so Simic:

    "Irgendwo in der Stadt New York gibt es vier oder fünf Objekte, die zusammengehören. Einmal zusammen, sind sie ein Kunstwerk. Das ist Cornells Prämisse, seine Metaphysik und seine Religion, die ich verstehen möchte. Er geht los von seinem Haus am Utopia Parkway, ohne zu wissen, wonach er sucht oder was er finden wird. Heute könnte es etwas so gewöhnliches und interessantes sein wie ein alter Fingerhut. Jahre können vergehen, bis er Gesellschaft bekommt. Inzwischen geht Cornell und schaut. Die Stadt hat eine unendliche Zahl von interessanten Objekten an einer unendlichen Anzahl von unerwarteten Orten."

    Dieser Wunsch zu verstehen, die magischen Orte zu entdecken, ist die eine Vorgabe für "Medici Groschengrab". Hinzu kommt ein zweites Programm, das Simic nicht weniger kunstvoll einlöst: man kann diesen Band als kühne Adaption von Cornells Methodik für die Lyrik selbst lesen. Simic' Collage aus Gedichten, Auszügen aus Cornells Tagebüchern, kurzen Prosatexten und Zitaten anderer Autoren eröffnet einen weiten Raum für überraschende Resonanzen, so unangestrengt anregend und provozierend wie die Schaukästen Joseph Cornells:

    "Amerika wartet immer noch auf seine Entdeckung. Seine Landstreicher und Dichter gleichen frühen Seefahrern, die auf Erkundungsreise gehen. Selbst in seinen Städten gibt es noch Orte, die von den Kartographen leer gelassen worden sind."

    "Amerika wartet immer noch auf seine Entdeckung", heißt es in einem der Gedichte. Dies schließt auch den amerikanischen Lyriker Charles Simic ein.