Freitag, 29. März 2024

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Medien als Erinnerungsspeicher
Das Leben - ein Hörbuch

Menschen, die wissen, dass sie sterben werden, möchten als Gesunde in Erinnerung bleiben. Die Geschichten des eigenen Lebens in Worte zu fassen, hilft unheilbar Erkrankten Abschied zu nehmen, und ihren Kindern - möglicherweise - den Tod der Eltern zu verarbeiten.

Von Dörte Hinrichs | 10.01.2019
    In Köln wird der Deutsche Hörbuchpreis verliehen - eine junge Frau hält einen Kopfhörer und ein Buch in der Hand (Symbolbild)
    Hören kann unmittelbarer wirken als Lesen. (imago)
    "'Dirty Dancing', das ist der Klassiker, wo wir Mädels sechs, sieben Mal mal waren, und tatsächlich, war ich auch so häufig dort. Und da hatte ich einen Freund, das war so ein blöder Hund, und der sagte zu mir, in so einen Film geht er nicht. Ja, und dann habe ich das dem Olli erzählt und dann ging der Olli mit mir rein."
    Der Beginn einer Liebesgeschichte, aus der eine lebenslange Beziehung wird, mit Hochzeit, gemeinsamer Tochter, vielen glücklichen Jahren. Ein Beispiel für ein Medium der besonderen Art: ein Familienhörbuch. Die eben gehörte und weitere Episoden aus dem Leben der Erzählerin waren eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht, sondern als "Schatzkästlein" - bestimmt nur für den Mann und das Kind der Protagonistin, die aber ihre Einwilligung für diesen Radiobeitrag gegeben haben.
    Unheilbar erkrankte Eltern erzählen für ihre Kinder
    Das Tondokument ist Teil eines einzigartigen Projektes, das sie über ihren eigenen Fall hinaus unterstützen möchten: "Palliativ erkrankte junge Mütter und Väter erzählen für ihre Kinder". Die Idee dazu hatte die Journalistin Judith Grümmer:
    "Das hat eben so angefangen, dass ich früher rein nur fürs Radio gearbeitet habe und da immer wieder festgestellt habe, in Interviews, es gibt Menschen, die haben einfach sehr viel Geschichte. Und viele freuen sich eben auch, wenn sie diese Geschichte, ihre private Geschichte, hörbar machen können für ihre Kinder, für ihre Angehörigen. Das jetzt nicht in ein Format gepackt bekommen, 30 Minuten, 45 Minuten oder fünf Minuten, sondern dass sie wirklich aus der Fülle ihres Lebens erzählen können und zwar so, wie ihnen, ich sage mal, der Schnabel gewachsen ist. Denen eine Stimme zu geben, sie erzählen zu lassen, daraus ist die Idee eines Familienhörbuchs entstanden."
    Das war 2004. Seitdem bekommt die Kölnerin, die 25 Jahre lang vor allem als Medizinjournalistin tätig war, Anfragen von Firmen oder Familien, die die Unternehmensgeschichte oder die Lebensgeschichte Angehöriger vor dem Vergessen bewahren wollen, allerdings vor einem aufwendigen Buchprojekt zurückschrecken.
    Besonders wichtig für die Kleinsten
    Viele Stunden Originaltöne nimmt Judith Grümmer auf, die später in die Familienhörbücher einfließen. Sie nimmt sich drei Tage Zeit, besucht die Menschen zu Hause, trifft sich mit ihnen in der Eifel – oder auf der Palliativstation.
    "Und dann bin ich aber sehr früh drangekommen, dass ich gesagt habe, so, ich muss mich jetzt konzentrieren. Für wen ist es aus meiner Sicht besonders wichtig? Und da bin ich darauf gekommen: Das sind die kleinen Kinder. Die kleinen Kinder, die nicht das Glück haben, mit ihren Müttern oder Vätern aufzuwachsen. Und die aber gerne später vielleicht einmal einfach die Geschichte ihrer Mutter oder ihres Vaters hören möchten. Das kann sich auch so anhören:
    "Ach ja, genau, meine Oma hat im Wohnzimmer auf dem Buffet, ein schwäbisches Buffet, hat sie eine alte Uhr gehabt, die hat immer zur vollen Stunde geklungen. Und da war ich wohl erst zwei oder was. Und da habe ich mich immer zu dem Glockenschlag gedreht. Aber was ich auch noch lustig fand: Wir hatten eine Wum und Wendelin-Schallplatte. 'Ich hab eine Luftmatratze' oder irgendwie so."
    "Ich wünsche mir eine kleine Miezekatze… "
    Eingebettet in eine Pilotstudie
    Das fertige Hörbuch besteht aus einer Audiodatei, die zwischen sechs und zwölf Stunden lang ist. Es hat viele Kapitel, ein Nachwort und ein Vorwort. Letzteres dient als Gebrauchsanweisung für die oft noch kleinen Kinder. Es erklärt zum Beispiel, welches Kapitel für das Kind in welchem Alter gedacht ist. Die Erzählende, denn meistens sind es Mütter, hat die alleinige Deutungshoheit über ihre Geschichte und Geschichten, die sie ihrer Familie hinterlassen will, sagt Judith Grümmer:
    "Palliativ erkrankte junge Mütter und Väter erzählen für ihre Kinder" ist ein Projekt, was eingebettet ist zurzeit in eine Pilotstudie der Universitätsklinik Bonn, der Palliativstation. Die werden befragt vorher auch, wie es ihnen geht. Weil man wissen möchte, was bringt das den Menschen mit dieser lebensbedrohlichen und eben sehr fortgeschrittenen Erkrankung."
    Es gibt auch ein Leben vor der Erkrankung – davon zu erzählen kann für die Betroffenen hilfreich sein. Und den Kindern kann es nach dem Tod ihres Elternteils helfen, ihre Trauer zu bewältigen, wenn sie der Stimme und den Geschichten der Mutter oder des Vaters lauschen können. Inwieweit das gelingt, soll die Auswertung der Pilotstudie herausfinden.