Dienstag, 16. April 2024

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Mediendebatte
Wie berichten über die Corona-Demonstranten?

Weite Teile der Gesellschaft sind zufrieden mit der Arbeit der Politik in der Coronakrise. Nur ein kleiner Teil demonstriert gegen die beschlossenen Maßnahmen. Die Berichterstattung über diese Gruppe nimmt gerade dennoch einen großen Raum ein. Einen zu großen?

Von Michael Borgers (mit Dlf-Nachrichten) | 12.05.2020
    "Ich bin dagegen" steht auf der Schutzmaske einer Frau geschrieben, die an der dritten Demonstration der "Querdenken"-Initiative auf dem Stuttgarter Schlossplatz teilnimmt
    Medienwissenschaftler Pörksen: "Menschen demonstrieren aus ganz unterschiedlichen Gründen, mal schlechteren und mal besseren." (picture alliance/dpa/Christoph Schmidt)
    Warum sich Menschen öffentlich empören und wie Medien damit umgehen, gehört zu den zentralen Themen, die Bernhard Pörksen seit Jahren erforscht. Für den Tübinger Medienwissenschaftler steht fest: Nach den Debatten um die Flüchtlings- und die Klimapolitik erlebe Deutschland mit der Coronakrise die nächste "Polarisierungswelle".
    "Und ich glaube, es ist der Moment, an dem man als Journalist oder als Journalistin möglichst genau hinschauen muss, den präzisen Blick betonen muss", sagte Pörksen im Deutschlandfunk – und warnt vor "pauschalen Abwertungen". Die Menschen demonstrierten aktuell aus "ganz unterschiedlichen Gründen, mal schlechteren und mal besseren". Eine vorschnelle Diffamierung seitens der Medien ruiniere deshalb den Diskurs.
    "Und trotzdem muss man einen Verschwörungstheoretiker einen Verschwörungstheoretiker und einen Antisemiten einen Antisemiten nennen", unterstreicht Pörksen. Gefragt sei "ein differenzierter Dialog, eine Mischung aus Empathie und Analyse, Diskussionsbereitschaft, aber auch Konfrontationsbereitschaft".

    Verschwörungsmythen aufklären, nicht nur wiederholen
    Bernhard Pörksen im Porträt
    Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (Peter-Andreas Hassiepen)
    Vor den Folgen einer zu breiten Berichterstattung über erwiesene Verschwörungsmythen warnt der Mainzer Journalistik-Professor Tanjev Schultz. Er sagte im Deutschlandfunk , Studien zufolge sorge die Wiederholung von solchen Legenden dafür, dass diese sich festsetzten – auch dann, wenn die Medien sie in den Beiträgen widerlegen wollten. Stattdessen sei es sinnvoll, alternative Erklärungen in den Mittelpunkt zu rücken und nicht allzu sehr auf Verschwörungsmythen einzugehen, und das in aller Sachlichkeit.
    Schultz ergänzte, in einigen Fällen könne das Aufgreifen von solchen Legenden dennoch sinnvoll sein. Als Beispiel nannte er den Umgang mit dem Microsoft-Gründer Bill Gates, über den viele Falschinformationen in Zusammenhang mit dem Coronavirus kursierten. In einem solchen Fall könnten Medien in aller Fairness und auch kritisch auf die Rolle von Gates eingehen, ohne dabei aber auch auf die Verschwörungsideen einzugehen.

    Schultz betonte, für Journalisten sei es ein schmaler Grad, worüber berichtet werden sollte. Einerseits müssten sie die Verhältnismäßigkeit im Blick behalten. So könne man nicht wochenlang darüber berichtet, wenn ein paar hundert Menschen demonstrierten und wirre Dinge propagierten. Andererseits dürfe niemand denken, dass nur wenige Menschen anfällig seien für Verschwörungsmythen. Nicht alle seien "Spinner", viele seien nur verunsichert.
    Portrait des Publizisten Tatjanev Schultz
    Tanjev Schultz, Journalismus-Professor in Mainz (Journalistisches Seminar Mainz/ dlf)
    Warum es nicht "Verschwörungstheorie" heißen sollte
    Sogenannte "Verschwörungstheorien" haben im Zuge der Coronakrise Hochkonjunktur und werden so auch in den Medien bezeichnet. Dabei genügen die Erzählungen, Ideologien und Mythen nicht im Entferntesten dem, was auf wissenschaftlichen Tatsachen basierende Theorien eigentlich auszeichnen.
    Die erreichen "die unsicher, aber ansprechbar sind"
    Ähnlich äußerte sich der "Spiegel"-Redakteur Veit Medick auf Twitter. Für Journalisten heiße es zurzeit: "So wirr der Protest auf den Straßen auch wirkt, lasst ihn uns sehr ernst nehmen, beobachten und analysieren. Wenn wir am Anfang nicht verstehen, was da vor sich geht, werden wir am Ende auch keine Antworten haben."
    Journalistinnen seien – genau wie Wissenschaftler und andere Experten – gefragt, die Menschen zu erreichen, "die unsicher, aber ansprechbar sind", schreibt Simone Rafael, Chefredakteurin von "Belltower.News – Netz für digitale Zivilgesellschaft", in einem Kommentar zur Frage "Wie berichten über Verschwörungsdemonstrationen?".
    "Wie lassen sich Quellen einordnen? Welche Bedürfnisse erfüllen die geteilten Verschwörungserzählungen – und wie können die befriedigt werden, ohne in antidemokratische Agitation zu verfallen? Diese Ansätze können Journalist*innen verfolgen, um über Proteste zu berichten, ohne nur deren Erzählungen und Provokationen zu vervielfältigen", so Rafael.
    Nicht die Lauten dürfen Klima bestimmen
    Gerade werde eine "gewaltige Medienbildungslücke" in der Gesellschaft offensichtlich, beobachtet Bernhard Pörksen. Die Mehrheit der Menschen wisse zwar seriösen Journalismus zu schätzen, doch einige zögen sich in "Selbstbestätigungsmilieus" zurück. "Und da den richtigen Ton zu finden, das Ringen um das richtige Argument wieder ins Zentrum zu stellen, das scheint mir das Gebot der Stunde".
    Grundsätzlich halte er es für richtig, "jetzt über diese Demonstrationen zu berichten, das gehört zur Chronistenpflicht", so Pörksen. Außerdem sei es angebracht, über die "zweifelhaften Koalitionen, die sich hier zeigen, zu sprechen". Gleichzeitig dürfe es die "gesellschaftliche Mitte nicht zulassen, dass das Kommunikationsklima von den Lauten, von den Wütenden und den Verschwörungstheoretikern bestimmt wird".