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Medienkompetenz

Der Begriff Medienkompetenz hat in den letzten Jahren einen ungeheuren Boom erfahren. Darunter versteht man erweiterte Fähigkeiten und Kenntnisse bei der Informationsbeschaffung und digitalen Kommunikation und Interaktion. Von den Chancen und Gefahren der von der Politik, Wirtschaft und den Medienvertretern geforderten "Medienkompetenz" handelt der zweite Teil des Doppel-Essays von Joachim Weiner über "Leitbilder der Gegenwartsgesellschaft".

Von Joachim Weiner | 26.12.2009
    Die digitale Revolution in den 80er-Jahren wird heute zu Recht als kulturrevolutionärer Umbruch begriffen, der mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar erscheint. Von den Sozialwissenschaften als Transformation der Industriegesellschaft in eine Informations- und Wissensgesellschaft beschrieben, hat er unseren Arbeits- und Lebenszusammenhang tief greifend verändert. Der softwarebasierte Technologieschub hat uns nicht nur neue Informations- und Kommunikationsstrukturen und ein breit gefächertes multimediales Informationsangebot beschert, sondern auch unsere Kommunikationsmöglichkeiten erheblich erweitert.

    Wir leben heute in einer von den neuen digitalen Medien durchdrungenen Welt, in der der Einzelne über das Internet und die audiovisuellen Massenmedien Zugang zu einem unüberschaubaren Informations- und Wissensangebot hat. Überdies generieren die Medien in wachsendem Maß auch Werte und Weltbilder. Sie prägen unsere Vorstellung von der Welt und der Gesellschaft, in der wir leben, ebenso wie unser Wissen darüber und tragen durch ihr Informationsangebot wesentlich zum Zusammenhalt unserer ausdifferenzierten Gesellschaft bei.

    Gleichzeitig stellt der Umgang mit den neuen Medien und den durch sie generierten Informations- und Kommunikationsstrukturen erhebliche Anforderungen an den Einzelnen. Wer die enorm erweiterten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, Kommunikation und Interaktion erfolgreich für sich nutzen will, benötigt eine Reihe von Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten die heute unter dem wohlklingenden Begriff Medienkompetenz subsumiert werden.

    Lange Zeit ein wenig beachtetes und bisweilen auch belächeltes Konstrukt der Medienpädagogik, ist Medienkompetenz in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem fraglos akzeptierten gesellschaftlichen Leitbild avanciert, das gleichermaßen von der Politik, der Wirtschaft und den Medien gefeatured wird. Insbesondere die Politik wird nicht müde, sie als unabdingbare Basisqualifikation für eine angemessene politische, kulturelle und ökonomische Teilhabe des Einzelnen am gesellschaftlichen Leben und an unserem Wohlstand zu beschwören. Um den Bürgern Medienkompetenz als eine unverzichtbare Lebensressource in der Informations- und Wissensgesellschaft anzutragen, bedient man sich bevorzugt einer eindringlichen und dramatisierenden Rhetorik. So heißt es etwa in einem Tagungsflyer der niedersächsischen Landtagsfraktion der SPD:

    "In unserer Informationsgesellschaft ist der selbst bestimmte Umgang mit Medien zur Schlüsselqualifikation geworden. Als vierte Kulturtechnik ist sie inzwischen so wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Nur mit Medienkompetenz ist gesellschaftliche und politische Teilhabe in der heutigen Welt zu realisieren. Oberstes Ziel einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft muss es deshalb sein, junge wie ältere Menschen fit zu machen im Umgang mit Medien. Medienkompetenz ist nicht nur ein Schlagwort, sondern Gebot der Stunde!"

    Solche Textbausteine, die Medienkompetenz zur Schlüsselfähigkeit der digitalen Gesellschaft erklären, tauchen heute in nahezu allen medienpolitischen Papieren der Parteien, der Wirtschaftsverbände und der europäischen Union sowie in Publikationen von Medientheoretikern und Medienpädagogen auf. Auffällig dabei ist, dass vorrangig Kindern, Jugendlichen, Frauen, Migranten und Alten ein Mangel an Medienkompetenz unterstellt wird, und diese als primäre Zielgruppen entsprechender Förder- und Fortbildungsmaßnahmen aufgeführt werden.

    Da wird in der Öffentlichkeit allenthalben für Förderung der Medienkompetenz plädiert, obwohl selbst Medientheoretiker und Medienpädagogen nahezu einhellig einräumen, dass es derzeit keinen hinreichenden Konsens darüber gibt, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist. Nicht nur, dass es bislang an verbindlichen Normen und Kriterien für die Bewertung von Medienkompetenz mangelt.

    Es besteht auch erhebliche Unklarheit darüber, wie sie erworben oder vermittelt werden kann und erst recht ab wann jemand hinreichend über sie verfügt. Kaum ein Medienpädagoge, der heute nicht selbst ein Unbehagen an dem unscharfen Leitbegriff seiner Disziplin empfindet und auf seine problematischen Implikationen hinweist.

    Im medienpädagogischen Diskurs steht Medienkompetenz für die Fähigkeit des Subjekts, die Medien zu nutzen, die verschiedenen Aspekte der Medien und deren Inhalte zu verstehen und kritisch zu bewerten, sowie in vielfältigen Kontexten kreativ mit und durch Medien zu kommunizieren. Knapper ausgedrückt meint sie einen sachgerechten, sinnvollen, kritisch-reflexiven, sozial verantwortungsvollen und kreativen Umgang mit den Medien. Was im Einzelnen darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen innerhalb der Medienpädagogik jedoch weit auseinander.

    Medienkompetenz wird durchgängig als ein mehr oder weniger eindeutiges und problemlos operationalisierbares Konzept dargestellt und als zentrales Leitbild und kollektives Lernziel der Informations- und Wissensgesellschaft beschworen.

    Nicht zuletzt deshalb ist sie heute im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit vorwiegend positiv konnotiert. Jedwedes Unterfangen, das den Anspruch erhebt, sie zu befördern, gilt heute a priori als gut und unterstützenswert. Selbst die fragwürdige, weil ausschließlich eigennützige Sponsoringpraxis der profitorientierten Medienindustrie, Kindergärten und Schulen mit stark verbilligter oder kostenloser Hard- und Software auszustatten, ruft kaum noch Bedenken hervor, seit die Unternehmen dazu übergegangen sind, sie unter dem Label "Medienkompetenzförderung" zu betreiben.

    Wer hingegen die zahlreichen Maßnahmen und Angebote zur Förderung von Medienkompetenz für nicht zielführend hält oder gar ihre Tauglichkeit als gesellschaftliches Leitbild und Lernziel in Frage stellt, läuft heute Gefahr, als digitaler Analphabet zu gelten und aus dem medienpolitischen Diskurs ausgeschlossen zu werden.

    Der unangefochtene Leitbildstatus und hohe gesellschaftliche Stellenwert, den Medienkompetenz heute genießt, beruht vor allem auf der Doppelfunktion, die ihr von der Politik im Verbund mit den Medien und der Wirtschaft in der Informations- und Wissensgesellschaft zugewiesen wird.

    Zum einen wird sie als unabdingbare Voraussetzung für die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen, die Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft auf dem globalen Weltmarkt und die erfolgreiche Orientierung in dem neuen Informations- und Wissensuniversum erachtet.
    Zugleich wird sie aber auch als wirksames Gegengift angepriesen, mit dem sich die problematischen und vielfach auch bedrohlichen Folgeerscheinungen der digitalen Revolution halbwegs erfolgreich in den Griff bekommen lassen.

    Dazu zählt vor allem die durch das Internet und die Massenmedien gigantisch angewachsene Bilder- und Informationsflut, die insbesondere von Kindern und Jugendlichen kaum angemessen verarbeitet werden kann.

    Zu den Folgeerscheinungen der digitalen Revolution zählen für weite Teile der Bevölkerung und viele Sozialwissenschaftler allerdings solche Phänomene, die der Kriminologe Christian Pfeiffer unlängst mit dem bedenklichen Begriff Medienverwahrlosung belegt hat. Darunter fallen neben übermäßigem Fernsehkonsum vor allem eine, durch die ausufernde Werbung zusätzlich beförderte, suchtähnliche Abhängigkeit von Handy, Computer, Internet, computerbasierten Killerspielen und sonstigen medialen Gewalt- und Pornografieangeboten. Die dadurch verstärkten Störungen vieler Kinder und Jugendlicher verursachen nicht nur hohe Therapiekosten, sondern beeinträchtigen auch deren Sozial- und Lernverhalten so, dass sich ihre Integration in den Arbeitsmarkt immer schwieriger gestaltet.

    Selbst in eine bedenkliche Abhängigkeit von den Medien geraten, ist die Politik zunehmend darauf bedacht, sich aus der Mitverantwortung für die unerfreulichen Konsequenzen ihrer markt- und medienpolitischen Entscheidungen heraus zu stehlen, indem sie von den Bürgern erwartet, sich hinreichend Medienkompetenz anzueignen, um eigenverantwortlich damit fertig zu werden.

    Jeder ist heute gehalten, sich über die technische Beherrschung der neuen Informations- und Unterhaltungsmedien hinaus zu befähigen, die Risiken und Fallen der neuen Medienwelt zu erkennen, ihren falschen Versprechungen und verführerischen Angeboten nicht unreflektiert auf den Leim zu gehen und die neuen Medien verantwortungsvoll zu nutzen. Den Bürgern wird diese Zumutung von der Politik als ein Beitrag zur Stärkung der Eigenverantwortung im Dienste eines selbstbestimmten Lebens in der digitalisierten Gesellschaft verkauft. Wer sich nicht um die verlangte Medienkompetenz bemüht, so die Botschaft an jeden, der verhält sich verantwortungslos und hat daher auch kein Recht sich zu beklagen, wenn er in der Informations- und Wissensgesellschaft nicht zurechtkommt.

    Der Medienkompetenzdiskurs der Politik ist beim Umgang mit den spektakulären Amokläufen von killerspielsüchtigen Jugendlichen an Schulen in Erfurt, Emsdetten und Winnenden erheblich in die Kritik geraten. Auf alle drei Ereignisse reagierte die Politik im Verbund mit den Medien ähnlich.

    Noch bevor die psychosozialen Ursachen und die Hintergründe der Tat hinreichend geklärt waren, wurde eine Debatte über das Verhältnis von Medien und Gewalt eröffnet, in der sich Vertreter der Politik zusammen mit Psychologen, Pädagogen und Kriminologen in nahezu allen Printmedien und Talkrunden mit hinlänglich bekannten Argumenten für oder gegen ein Killerspielverbot und einen verstärkten Jugendschutz aussprachen.

    Einig waren sich die Kontrahenten jedes Mal nur darin, dass die wirksamste Prävention gegen Amokläufe, die von Killerspielen und Gewaltvideos inspiriert wurden, die Förderung der jugendlichen Medienkompetenz sei. So erklärte etwa der Fraktionsgeschäftsführer der Grünen Volker Beck nach dem Amoklauf in Emsdetten:

    "Wenn die Informationen zutreffen, dass der Täter gesellschaftlich isoliert war und seine Zeit hauptsächlich mit dem Spielen von Killerspielen verbracht hat, dann muss jetzt verstärkt eine Debatte um Förderung von Medienkompetenz und einer sinnvollen Computernutzung geführt werden."

    Kaum anders reagierte Rosemarie Hein, Mitglied des Parteivorstands der Linken, nach dem Amoklauf von Winnenden:

    "In Zeiten des Internet ist es kaum möglich, das Herankommen an Gewalt verherrlichende Videospiele zu verhindern. Aber wir können etwas tun, dass sie nicht genutzt werden, dass sie vor allem nicht das reale Handeln junger Menschen bestimmen. Das erfordert, mehr Aufmerksamkeit auf die Entwicklung einer kritischen Medienkompetenz zu legen."

    Die hierzulande nach jedem Amoklauf erhobene Forderung nach einem nachhaltigen Ausbau der Medienkompetenzförderung von Kindern und Jugendlichen dient vorrangig dazu, einer verunsicherten und ratlosen Öffentlichkeit zu suggerieren, dass es einen unkomplizierten Weg gibt, das beunruhigende Phänomen des jugendlichen Amoklaufs in den Griff zu bekommen. Statt sich eingehend mit den von ihr mit zu verantwortenden gesellschaftlichen Faktoren und sozialen Bedingungen auseinanderzusetzen, die in unserer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft solche psychisch deformierten jungen Männer hervorbringen, focussiert man die Debatte auf die unzureichende Medienkompetenz der Täter.

    Ziel dieser Strategie ist es, die Verantwortlichkeiten für solche jugendlichen Gewaltexzesse zurecht zu rücken und sie nicht nur bei den Medien und der Medienindustrie zu suchen, sondern auch bei den Eltern und Lehrern, die für die Vermittlung von Medienkompetenz zuständig sind. Die familienpolitische Sprecherin der bayerischen FDP, Miriam Gruß, hat dies nach dem Amoklauf von Winnenden noch einmal unmissverständlich klargestellt.

    "In erster Linie sind Eltern und Erziehungsberechtigte gefordert, wenn es um Computerspiele geht. Dazu gehört eine Schulung von Medien- und Internetkompetenz von klein an. Kinder und Jugendliche müssen lernen, ihr Spiel richtig einschätzen zu können. Aufgabe der Eltern wie auch von Erzieherinnen und Erziehern ist es, Kinder bei der Gratwanderung zwischen Spiel und ihrer gesunden Entwicklung zu unterstützen. Medienkompetenz der Eltern schulen bedeutet, sich über die Inhalte der Spiele, die Spieltechnik und über die Wirkung von Computerspielen zu informieren."

    Es ist schon bedenklich, mit welcher Gleichgültigkeit die Öffentlichkeit auf die geradezu zynische Art und Weise reagiert, in der sich die Politik des medienpädagogischen Leitbegriffs Medienkompetenz bedient, um sich selbst und die Medienwirtschaft zu entlasten und deren ökonomische Interessen zu wahren. Können doch die so weitgehend von jeder Mitverantwortung freigesprochenen Medienproduzenten ungebremst fortfahren, ihr quotenträchtiges Angebot an Gewalt, Pornografie und menschenverachtenden Reality-Formaten weiter auszubauen, um ihre Werbeeinnahmen und Gewinne auf neue Rekordhöhen zu treiben.

    Das gilt in besonderem Maß für die Computerspiel-Industrie, die geradezu darauf angewiesen ist, permanent an der medialen Gewaltspirale zu drehen, um die von ihr entwickelten Softwareprodukte und Internetangebote ihrer nach immer neuen Kicks verlangenden Klientel erfolgreich zu verkaufen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass auch die Medienindustrie derweil für mehr Medienkompetenz votiert. Allerdings nicht, um ihre jugendliche Kundschaft vorn übermäßigem Medienkonsum oder gar der mentalen Verrohung zu bewahren. Es geht vor allem darum, dass die Konsumenten über Kenntnisse im Umgang mit der digitalen Technik und den Softwareprodukten Kenntnisse verfügen, und ihre digital befriedigten Allmachts- und Gewaltphantasien nicht die Grenze zur Realität überschreiten. Amokläufe, wie der von Erfurt oder Winnenden schaden vor allem dem Image und den Geschäft der Computerspiel-Industrie.

    Dass auch die Medienpädagogik, die seit Jahren die Vorliebe der Medienindustrie für Gewalt und Trash beklagt und ansonsten vehement für einen mündigen und aufgeklärten Umgang mit den Medien plädiert, die missbräuchliche Indienstnahme ihres Leitbegriffs durch die Politik nur verhalten moniert, ist nur auf den ersten Blick hin irritierend. Ihre auffällige Zurückhaltung hat ihren Grund darin, dass sie in den letzten beiden Jahrzehnten ihre ablehnende Haltung gegenüber den Medien und ihren bewahrungspädagogischen Ansatz aufgegeben und ein neues Selbstverständnis entwickelt hat.
    Heute versteht sie sich nicht mehr als moralische Schutztruppe, die das wehrlose Kind vor den verderblichen Einflüssen der audiovisuellen Massenmedien und der Werbung zu schützen beansprucht. Eher schon als medienpolitische Rescue-Einheit zur Eindämmung der Kollateralschäden, die bei der Deregulierung des Medienmarktes angefallen sind. Indem sie Medienkompetenz als einzig tauglichen Schutz vor einem unreflektierten Umgang mit den neuen Medien und ihren Fallstricken verordnet, springt sie der Politik hilfreich zur Seite, die der Bevölkerung Nebenwirkungen ihrer Medienpolitik als unvermeidbaren Preis für die Annehmlichkeiten der digitalen Mediengesellschaft auszugeben versucht.

    Leider ist aber nicht zu erwarten, dass die Medienpädagogik in absehbarer Zeit ihr fragwürdiges Zusammenspiel mit der Politik einer kritischen Prüfung unterzieht, wie es ihrem aufklärerischen Anspruch entspräche, um ein überzeugendes Konzept der Medienbildung zu entwickeln. Doch nur so hätte sie aber eine Chance, sich aus dem Interessengeflecht mit der Politik und der Medienindustrie herauszuarbeiten und sich als glaubwürdiger Gegenpol zu einer Medienpolitik zu positionieren, die den ökonomischen Interessen der Medienindustrie prinzipiell Vorrang vor den pädagogischen Bedenken einräumt. Sie müsste dann auch nicht länger, gefesselt an ein völlig überladenes und letztlich nicht operationalisierbares Medienkompetenzkonzept, ständig wachsende Anforderungskataloge entwickeln, die von Elternhäusern und Schulen abzuarbeiten wären, damit unsere Kinder und Jugendlichen erfolgreich angepasste Mitglieder der Informations- und Wissensgesellschaft werden können. Abgesehen davon, dass der Nachwuchs heute unkontrollierbaren Umwelteinflüssen ausgesetzt ist, wäre auch die den Eltern und Lehrern von vielen Medienpädagogen abverlangte Medienerziehung und deren Erfolgschance in Zweifel zu ziehen. Sie sprengt nicht nur den ihnen dafür zur Verfügung stehenden Zeitrahmen, sondern übersteigt in vielen Fällen auch deren pädagogische Fähigkeiten, mentale Kapazitäten und Wissenshorizont. Kaum etwas ist daher für die Medienerziehung von Kindern und Jugendlichen mit ungleichen milieubedingten Voraussetzungen und Fähigkeiten so wenig hilfreich wie die realitätsfernen Lernzielkataloge, mit denen sich viele Medienpädagogen nach wie vor zu profilieren versuchen.

    Würde die Medienpädagogik der gesellschaftlichen Realität Rechnung tragen und sich von ihren voluminösen Anforderungskatalogen und ihrem Leitkonzept Medienkompetenz verabschieden, liefe sie allerdings Gefahr, ihren gewinnbringenden Nutzen für die Politik, die Medien und die Medienindustrie zu verlieren. Das hätte mit ziemlicher Sicherheit zur Folge, dass sie im Zuge des Umbaus der Hochschulen ihre in den letzten beiden Jahrzehnten mühsam erarbeitete institutionelle Verankerung im akademischen Betrieb und in der Politik weitgehend einbüßen würde, was natürlich auch schwerwiegende ökonomische Konsequenzen hätte. Ohne die zahlreichen vom Bund, den Ländern und der Privatwirtschaft finanzierten Forschungsaufträge, Gutachten und Medienanalysen wäre sie zu einem Schattendasein in unserem zunehmend verwertungsorientierten Wissenschaftsbetrieb verdammt.

    Angesichts solch unerfreulicher Aussichten ist es kein Wunder, dass derzeit viele Vertreter der Medienpädagogik eher die Gunst der Stunde nutzen, um Medienkompetenz mehr und mehr zu einer Universalkompetenz der digitalisierten Gesellschaft auszubauen und auf diese Weise den Gebrauchswert ihrer Disziplin für die Politik, die Medien und die Medienindustrie zu steigern. Kaum noch ein gesellschaftlicher Bereich, in dem sie nicht einen Mangel an Medienkompetenz ausmachen, und in die neu entdeckte Lücke mit neuen Förder- und Fortbildungsangeboten vorstoßen, die vermeintlich geeignet sind, um aus passiven Medienkonsumenten kreative und selbstbestimmte, den Anforderungen der globalisierten Informations- und Wissensgesellschaft gewachsene Medienakteure zu machen.

    Dass mit diesen Angeboten in der Regel nicht die Angehörigen der bildungsfernen Schichten erreicht werden, die eigentlich die wichtigste Zielgruppe der Medienkompetenzförderung wären, scheint allerdings nicht zu irritieren. Zumindest ist dieses Manko offenbar für viele Medienpädagogen kein Grund, den eigenen Anspruch selbstkritisch zu hinterfragen. Nur eine Minderheit ist bereit, ihre weit reichenden und realitätsfernen Vorstellungen von Medienkompetenz auf die höchst unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Verhältnissen herunter zu brechen, in denen diejenigen Kinder und Jugendlichen leben, die geradezu prädestiniert sind, sich hoffnungslos in den Fallstricken der neuen Medienwelt zu verfangen. Medienpädagogische Projekte, von denen es auch hierzulande eine ganze Reihe gibt, die inhaltlich und methodisch, an den Lebenslagen, mentalen Voraussetzungen und Erfahrungen ihrer Klientel ansetzen, leisten daher trotz ihres oft bescheidenden Anspruchs einen größeren Beitrag zur Medienbildung, als die Mehrzahl unserer Schulen.

    Diese verfügen, selbst wenn sie mit Computern und einem Internetzugang ausgestattet sind, in der Regel weder über die zeitlichen noch über die personellen Ressourcen, die für eine qualifizierte und vor allem nachhaltige Medienbildung erforderlich wären. Deshalb erschöpft sich Medienerziehung in der Mehrzahl unserer Bildungseinrichtungen, aller wohlklingenden curricularen Vorgaben zum Trotz, darin, dass die Schüler lernen mit den gängigen Officeprogrammen von Microsoft umzugehen, mäßig sicher im Internet zu surfen, problemlos e-mails zu schreiben, und wenn es hoch kommt, eine eigene Website zu erstellen. Daneben bleibt meist nur noch wenig Zeit für eine systematische Analyse der Struktur und der inhaltlichen Angebote der Massemedien und der Werbung, geschweige denn für die Vermittlung der Fähigkeiten und Kenntnisse, die für die erfolgreiche Erschließung des im Internet zur Verfügung stehenden Informations- und Wissensangebots unabdingbar notwendig sind. Für grundlegende Überlegungen zur Rolle und Funktion der Medien in unserer Gesellschaft oder gar für eine nähere Beschäftigung mit der Medienpolitik, der Medienkonzentration oder gar der Medienökonomie ist in der Regel überhaupt keine Zeit vorhanden.

    Erschwerend kommt hinzu, dass ein erheblicher Teil des Lehrpersonals an unseren Schulen sich schon mit der technischen Beherrschung der neuen Medien schwer tut und in Sachen Medienanalyse, Medienpolitik und Medienökonomie selbst nur über unzureichendes Wissen verfügt. Die wenigen rühmlichen Ausnahmen, die von den Medien immer wieder mal als Beispiele für eine vorbildliche schulische Medienerziehung gefeiert werden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, was in der Fläche unter dem Label Medienerziehung angeboten wird, an Hilflosigkeit und Dürftigkeit nur schwer zu überbieten ist. Selbst groß angelegte Initiativen wie Schulen ans Netz oder ein Laptop für jeden Schüler haben bislang, nicht merklich zu der erhofften Verbesserung der schulischen Medienbildung geführt.

    Dass die flächendeckende Ausstattung der Schulen mit Hard- und Software nur dann gelingen kann, wenn sie mit einer Aufstockung der personalen und fachlichen Ressourcen der Schulen und einer grundlegenden Veränderung der vorherrschenden Unterrichtspraxis einhergeht, ist zwar hinlänglich bekannt, wird aber von den verantwortlichen Bildungspolitikern schon aus Kostengründen geflissentlich ignoriert. Angesichts der völlig unzureichenden zeitlichen, fachlichen und methodisch-didaktischen Voraussetzungen für eine nachhaltige Medienbildung in unseren Bildungseinrichtungen erweist sich die nach jedem Amoklauf von Politikern aller Parteien lautstark erhobene Forderung nach einer verstärkten Medienkompetenzförderung in Kindergärten und Schulen einmal mehr als eine ritualisierte Leerformel. Sie dient nur dazu, die Öffentlichkeit zu beruhigen und die eigene Rat- und Hilflosigkeit zu kaschieren.

    Die unerfreulichen, durch zahlreiche empirische Untersuchungen bestätigten Befunde zur schulischen Medienerziehung lassen erkennen, dass Politik, Medien und Wirtschaft sich nicht darüber im Klaren zu sein scheinen, was eine Medienbildung, die diesen Namen auch verdient, eigentlich leisten soll. Dabei ist das Erziehungsziel doch eher unstrittig, geht es doch darum, User zu reflektierten Mediennutzern und kundigen Navigatoren zu erziehen, die im Dickicht eines unüberschaubaren Informations- und Wissensangebot im Internet nicht den Überblick verlieren und gegen Gefahren des Missbrauchs immun sind. Hier wäre schon eher das Leitbild einer digitalisierten Mediengesellschaft zu suchen. Dem entspräche eher ein User, der seine beruflich benötigten IT-Kenntnisse auf Stand hält, der aber zum Beispiel nicht einen großen Teil seiner Freizeit damit vergeudet, mehr oder weniger ungezielt und durch das Netz zu surfen.

    Im Umgang mit Büchern und Bibliotheken geschult würde er nur gezielt nach Informationen suchen, die er zur Bewältigung seines Alltags oder zur Erweiterung seines Wissenshorizonts braucht. Der würde auch nicht seine Hardware, sei es nun sein Handy, seinen Fernseher, seinen mp3-player, sein Navigationsgerät oder seinen Computer im Rhythmus der Innovationszyklen der Industrie gegen neue, leistungsstärkere und mit von ihm nicht benötigten Zusatzfunktionen ausgestatteten Produkte eintauschen, sondern erst dann, wenn die Neuentwicklungen für ihn einen spürbar höheren Nutzen und Gebrauchswert hätten als seine Altgeräte. Desgleichen würde er die Informations- und Unterhaltungsangebote der Medien überaus selektiv und restriktiv nutzen, weil er einen großen Teil seines Zeitbudgets für das Familienleben, seine Sozialkontakte und die Wahrnehmung von Kulturangeboten zur Verfügung hätte.

    Aber wäre dieser, hier nur andeutungsweise skizzierte, aus der Sicht der Medienpädagogik wohl als ausreichend medienkompetent geltende Medienkonsument auch kompatibel mit den Ansprüchen und Erwartungen der Medienindustrie, der Medien wie auch der Politik? Würde er nicht alle Wachstumsprognosen und -hoffnungen zunichte machen? Denn die Informations- und Kommunikationstechnologie gilt derzeit als der entscheidende Wachstumsmotor der globalisierten Wissensgesellschaft. Wäre das Leitbild Medienkompetenz also noch ein realistisches Ziel, wenn es sich nur auf den mündigen und gut informierten Bürger und kritischen Konsumenten stützt? Ist nicht eher der konsumfreudige, für jede Marktneuheit leicht zu begeisternden Medienkonsument gefragt? Die allseits geforderte Medienkompetenz erscheint deshalb häufig nur wie eine wohlklingende leere Worthülse. Ihre Gebote befinden sich kaum im Einklang mit den Imperativen der postmodernen Mediengesellschaft.
    Und als wenn es noch eines höheren Beweises bedurft hätte, hat FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem gerade erschienenen Buch "Payback" die negativen Auswirkungen einer allumfassenden Medienkompetenz in beängstigenden Bildern beschrieben. Danach grenzt Multitasking an Körperverletzung. Denn mehrere Dinge gleichzeitig zu tun heiße nichts anderes als ständig abgelenkt zu werden und die Ablenkung wieder unter Kontrolle bringen zu müssen. Dadurch verlören die Menschen buchstäblich alles, was sie vom Computer unterscheide: Kreativität, Flexibilität und Spontanität. Gleichzeitig entstehe der perverse Zwang, nach Vorgaben des Rechners zu funktionieren. Frank Schirrmacher beschreibt eine horrorartige Neuarchitektur:

    "Durch die Vielzahl der neuen Medien und durch die Fülle an Informationen, die sie digital versenden, hat bei vielen von uns erstaunlicherweise ein Umbau des Denk- und Erinnerungsapparats eingesetzt. Hirnforscher haben gezeigt, dass sich die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn verändern, ohne genau sagen zu können, ob noch die Glühbirne am Ende des Stromkreises angeht oder schon die Müllpresse. Die neue Architektur verändert auch das Ich, das in ihr wohnt – in einem Tempo, das Evolutionsforscher, milde ausgedrückt, in Erstaunen versetzt. Etliche Hinweise sprechen dafür, dass sich auch unsere geistige Architektur zu verändern beginnt. Es ist eine Verwandlung wie die von Kafkas Held Gregor Samsa, der eines Morgens erwacht und feststellen muss, dass er über Nacht ein Käfer geworden ist."

    Können wir also noch unterscheiden zwischen dem was wichtig und unwichtig ist? Für kritische Vordenker der Informationstechnologien ist Medienkompetenz längst eine Form der seelischen Überwältigung, populärer ausgedrückt: des unentrinnbaren Besoffenwerdens. Nach Frank Schirrmacher sind es nicht böse, verführerische Mächte einer Manipulation, die hier planmäßig am Werke sind. Nicht wir hätten ein Problem sondern unsere Geräte.

    "Es ist tatsächlich wie bei Kafka: Hinter unserer Verwandlung stecken keine bösen Mächte, niemand sitzt bei Google oder im Silicon Valley, um den Menschen das Denken, Lesen und das Erinnern abzugewöhnen. Im Gegenteil: Es waren die Protagonisten der neuen Technologien, allen voran der Computer-Pionier Joseph Weizenbaum, die als Erste vor dem kognitiven Wandel gewarnt haben, mit dem wir es nunmehr zu tun haben."

    Viele von uns registrieren zwar eine Veränderung ihres Denkapparats, aber das scheint sie bisher nicht besonders zu beunruhigen. Irgendwo, so meinen wir, steht schon ein Rechner, der aufzeichnet, was wir vergessen haben, uns daran erinnert, was wir zu tun haben, und uns alarmiert, wenn wir einen Fehler gemacht haben."