Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Mediensüchtige Jugendliche
Lernen, mit dem Zocken aufzuhören

Spielen, chatten, surfen - für manche Menschen gehört das nicht nur zum Alltag, sondern stellt den Lebensinhalt dar. Mediensucht ist zwar ein relativ neues Phänomen, aber kein unbekanntes. Immerhin gut eine halbe Million Menschen werden als mediensüchtig eingestuft. Besonders hoch ist der Wert unter Jugendlichen - in Dortmund aber können sie Hilfe finden.

Von Frederik Rother | 22.09.2015
    Spielkonsole, Finger, die darauf klicken
    Ungefähr ein Jahr müssen mediensüchtige Jugendliche lernen, wieder einen normalen Alltag zu führen. (picture alliance / dpa / Swen Pförtner)
    Es ist 13 Uhr, Mittagessen im "Auxilium Reloaded" in Dortmund. Die vier Jugendlichen am Küchentisch, alle zwischen 14 und 21 Jahre alt, beugen sich über ihre Teller. Sie essen Würstcheneintopf und diskutieren dabei mit ihren Betreuern. Gerade geht es - halb im Spaß, halb im Ernst - um die vielen Kartoffeln in der Suppe.
    Gemeinsam Kochen und gemeinsam Essen - anderswo nicht erwähnenswerter Alltag, doch genau der muss von den Jugendlichen in dieser besonderen Einrichtung erst einmal gelernt werden. Das "Auxilium Reloaded" gibt es seit letztem Herbst und ist eine Art Reha-Klinik für mediensüchtige Jugendliche. Die erste ihrer Art in Deutschland, betrieben von den Malteser Werken.
    In der Regel dauert der Aufenthalt hier mindestens ein Jahr. Eine Zeit, die auch Chris noch bevor steht. Der 16-Jährige - der in Wirklichkeit anders heißt - trägt weite Jogginghosen, ein T-Shirt mit Aufdruck und eine lässige Mütze. Seit Ende August ist er hier, aber er ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, ins "Auxilium" zu kommen:
    "Oh ja! Sehr richtig sogar, ich gehöre hier einfach nur hin."
    Chris hat einen riskanten Medienkonsum, wie die Betreuer und Therapeuten es hier nennen. Bevor er hierher kam, hat er nichts anderes gemacht, als Computer zu spielen. Zocken heißt das bei den Jugendlichen:
    "Zocken! Nur zocken. Und rauchen, natürlich auch duschen, essen...und dann weiterzocken."
    Den Egoshooter "Call of Duty" hat Chris den ganzen Tag gespielt, übers Internet und mit anderen zusammen. Daneben blieb nicht mehr viel Zeit: Zur Schule ist er seit einem Jahr nicht mehr gegangen, und Freunde traf er online. Sein Leben spielte sich bis vor kurzem noch komplett im Internet ab - ohne die Familie.
    "Wenn die irgendwas gesagt hätten, dann wäre ich wieder ausgeflippt. Hätte dann irgendwas gegengeschlagen, zum Beispiel ne Wand oder meine Türe."
    Den Alltag wieder bewältigen
    Große soziale Schwierigkeiten sind die Folge der Medienabhängigkeit, wie Patrick Portmann beobachtet hat. Der Sozialpädagoge mit der modernen Hornbrille und dem feinen Wollpullover leitet das "Auxilium":
    "Wenn man sich vorstellt, dass man sehr früh in seinem Leben sehr wenig Kontakt zur Umwelt hat und dann irgendwie während der Pubertät dann ganz viele, ganz normale Entwicklungsschritte nicht mitmacht, dann ist es halt so, dass man sich immer weniger zutraut."
    Der Alltag scheitert dann oft an einfachen Dingen:
    "So kann es halt auch passieren, dass man mit Jugendlichen erst mal übt, wieder zum Bäcker zu gehen, dort irgendwie ne Bestellung aufzugeben, der Verkäuferin noch einen schönen Tag zu wünschen und den Laden wieder zu verlassen. Das ist für viele erst mal schon eine Herausforderung, weil die so etwas schon ewig nicht mehr gemacht haben."
    Darum geht es: einen Alltag mit persönlicher und beruflicher Perspektive zu erschaffen. Abseits der virtuellen Welt. Auch wenn in Computerspielen gezielt Anreize gesetzt werden, um die Spieler möglichst lange zu binden, hält Patrick Portmann sich mit Schuldzuweisungen gegenüber der Spieleindustrie oder den Eltern zurück.
    Vielmehr gebe es psychische Veranlagungen oder soziale Ängste und Unsicherheiten, die zur Verlagerung des Lebens ins Internet beitragen:
    "Wenn man in der Schule vielleicht schon mal der Außenseiter war, ist man nicht gewohnt, dass man gefeiert wird, wenn man irgendwie was mal ganz toll hinbekommt, oder dass die Leute auf einen warten, ist man dann auch nicht gewohnt, wenn man vorher vielleicht der letzte war, der beim Fußball ausgewählt wurde."
    Das "Auxilium Reloaded", ein orange-weiß gestrichener Neubau, liegt im Südosten Dortmunds, im Stadtteil Aplerbeck. Zur Zeit wohnen sieben Jungs hier, Ende des Monats ist die andere Etage bezugsfertig: Dann ist Platz für insgesamt 14 junge Menschen, die nach Absprache mit dem Jugendamt - das normalerweise auch die Kosten übernimmt - hier einziehen können.
    Es gibt einen Fitness- und einen Werkstattkeller. Zum Konzept gehören Einzel- und Gruppentherapien und - gemeinsames Computerspielen. Magnus Hofmann, der Therapeut der Einrichtung, betreut diese Spielesessions:
    "Bei dem Medienkompetenztraining geht's darum, mit denen zusammen zu gucken, was sie spielen, was für Charaktere sie sich da gewählt haben, was für Fähigkeiten die haben. Und dann geht's darum zu hinterfragen: Ja, sind das Fähigkeiten, die ich vielleicht auch in die Realität übertragen kann, oder sind das Fähigkeiten, die ich gerne hätte, wo ich mir irgendwie wünsche, wo ich die herkriege, weil mir irgendwas fehlt - und das ist so der Hintergrund."
    Träumen von einer besseren Zukunft
    Nicht Medienabstinenz, sondern einen vernünftigen Umgang mit Smartphone, Internet und PC will das Team erreichen. Dabei müssen die Gründe für den "riskanten Medienkonsum" herausgearbeitet werden.
    Aber es gibt auch noch ein anderes Ziel im "Auxilium Reloaded": Den Jugendlichen wieder Träume und Visionen zu vermitteln, die sich im Virtuellen aufgelöst haben. Patrick Portmann:
    "Wenn man keine Ideen und keine Fantasie für sich und seine Zukunft hat, dann kann man auch schlecht sagen: Jetzt ändere ich mein Leben. Weil man dann ja nicht weiß, wofür. Man muss ja genau diesen Teil in einem auch immer wach halten, damit man irgendwie vorangetrieben wird."
    In der Küche sind die vier Bewohner inzwischen beim Nachtisch: Waldmeisterpudding mit Vanillesoße. Die Jungs scherzen.
    Chris will die Therapie definitiv durchziehen, wieder zur Schule gehen und damit seinem Traum näherkommen:
    "Dass ich irgendwann nach Amerika reise, ein hübsches, hübsches Auto fahre, den Nissan Skyline GTR 34, schön durch die Route 66 fahren..."