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Medikamententests in Behinderteneinrichtung
Versuchspillen mit schweren Folgen

In der diakonischen Behinderteneinrichtung im südbadischen Kork soll 1972 ein triebhemmendes Medikament an Jugendlichen mit geistiger Behinderung getestet worden sein. Die Versuchspillen verabreichte damals auch ein Ersatzdienstleistender - noch immer fühlt er sich wie ein Mittäter.

Von Charly Kowalczyk | 15.11.2018
    Machenschaften in einem Labor (Symbolfoto)
    Mindestens drei Jugendlichen wurden 1972 in einer Behinderteneinrichtung triebhemmende Versuchspillen verabreicht. (imago/imagebroker Dunkle )
    "Also wir stehen jetzt da vor dem sogenannten früheren Hauptgebäude, also es ist ein symmetrisches Gebäude, ganz genau, "Gott der Herr ist Sonne und Schild". Die Bäume waren damals allerdings viel höher und da sind nachts die Tauben drin gewesen und haben gegurrt, wenn ich da oben Nachtdienst geschoben habe."
    Gebhard Stein geht auf Spurensuche - in der "Diakonie Kork" im südbadischen Kehl am Rhein. 1972 hat der 66-jährige Erziehungswissenschaftler dort seinen Ersatzdienst geleistet. Heute arbeiten in der Behinderteneinrichtung mit Epilepsiezentrum fast 1400 Menschen. Mindestens drei Jugendlichen musste der Zivildienstleistende damals eine triebhemmende Versuchspille verabreichen. Besonders gut ist ihm der erst 14-jährige Schorsch in Erinnerung geblieben – ein Junge mit geistiger Behinderung. Der Teenager wurde verweiblicht, ihm wuchsen Brüste, sein Becken wurde breiter. 46 Jahre später fühlt sich Gebhard Stein ein wenig wie ein Mittäter. Er stellte im Nachtdienst für die Patienten die Medikamente für den nächsten Tag zusammen.
    "Dann fällt es natürlich auf, wenn ich immer die 'Luminal', also diese für die Epilepsie spezifisch zugerichteten Medikamente da irgendwo rausnehme und da reintüte und dann plötzlich ein Medikament ist aus einer vollkommen weißen Schachtel, wo nur drauf steht: SH 08714. Und ich habe mal Mediziner gefragt, also die jungen Assistenzärzte da: 'Ja, ja, das ist halt ein Erprobungsmedikament gegen den Trieb, Du weißt schon.'"
    Triebhemmer von Schering
    Der Triebhemmer stammte vom Berliner Pharmakonzern Schering, der seit 2006 zu Bayer gehört. Bayer erklärte in einer Mail, sie würden das Medikament mit der Versuchsnummer SH 08714 nicht kennen. Doch mit der Mail vom 27. Januar 2016 wurde versehentlich ein Anhang mitgeschickt. Er enthüllt, dass sie das Versuchsmedikament in ihren Archiven gefunden haben. Allerdings hatte sich der ehemalige Zivi die Versuchsnummer mit einem Zahlendreher gemerkt. Bei der getesteten Substanz SH 80714 handelte es sich um Cyproteronacetat, ein Testosteronhemmer, der in hohen Dosen wie eine chemische Kastration wirkt. Das Versuchsmedikament wurde 1973 als "Androcur" zugelassen.
    Gebhard Stein gab Schorsch und den anderen Jugendlichen wöchentlich 350 mg von der Substanz. Mit der hohen Dosierung wurde der Trieb von Schorsch und den anderen Jugendlichen vollständig gehemmt - und sie wurden verweiblicht. Dazu gehöre das Brustwachstum, eine weichere Haut, verminderten Bart- und Haarwachstum sowie eine veränderte Stimmungslage, erklärt der Berliner Arzt Christoph Schuler. Er behandelt seit fast 20 Jahren Transsexuelle mit "Androcur", allerdings mit einer weit geringeren Dosierung:
    "Die Dosierungen für die sogenannte chemische Kastration liegen bei 300 mg und höher pro Woche. Wir reden in der Transitionsbehandlung von Dosierungen zwischen 5 und 10 mg derzeit."
    Als der Vorstandsvorsitzende der "Diakonie Kork", Pfarrer Frank Stefan, vor drei Jahren mit dem Verdacht auf Medikamentenversuche an Jugendlichen in den damaligen Korker Anstalten konfrontiert wurde, reagierte er abwehrend: "Ich gehe aber davon aus, dass "Androcur" an dieser Stelle tatsächlich zwar vor seiner Zulassung eingesetzt wurde, aber wenn man weiß, wie lange so ein Medikament braucht, bis es zugelassen wird, ist, sage ich mal ein Jahr vor Zulassung schon vergleichsweise weit."
    Im Herbst 2018 ist Frank Stefan bereit, "für das, was damals schiefgelaufen ist", wie er sich ausdrückt, um Entschuldigung zu bitten. Doch aufklären könne man dies alles nicht mehr, meint er, die damals handelnden Menschen lebten nicht mehr und andere mutmaßliche Opfer könne man nicht mehr finden. Grund: Sämtliche Akten seien nach 20 Jahren vernichtet worden.
    Karl Lauterbach, der gesundheitspolitische Sprecher der SPD, sieht das allerdings anders: Um die Aufklärung der medizinischen Experimente komme man nicht herum. Soziale Einrichtungen, Pharmaindustrie, Politik und auch die Ärzte müssten sich ihrer Verantwortung stellen.
    Eltern sind entsetzt
    "Eine unrühmliche Rolle hat damals die Ärzteschaft gespielt, weil, als Arzt muss ich ein Gefühl dafür haben, dass also bestimmte Experimente, Tests nicht gehen, ohne Einwilligung bei vulnerablen Gruppen. Oft sind die Experimente ja gemacht worden mit behinderten Menschen, mit Medikamenten, die diesen behinderten Menschen aber nie zu Gute gekommen wären. Man hat sozusagen am Behinderten erforscht, was später am Nichtbehinderten eingesetzt werden sollte."
    Nach der Markteinführung 1973 warnte Schering bei der Verabreichung des Triebhemmers vor gesundheitlichen Folgen bei Jugendlichen. Zudem müssten Ärzte bei der Verabreichung der Substanz die informierte Einwilligung der Jugendlichen und ihrer gesetzlichen Vertreter einholen. Daran haben sie sich in der diakonischen Einrichtung in Kork nicht gehalten. Schorschs Mutter macht das fassungslos. Erst vor kurzem erfuhr sie, dass an ihrem Sohn das triebhemmende Medikament getestet wurde. Nie hätten sie als Eltern und Vormund eingewilligt, sagt sie: "Also da hat man zu uns nichts gesagt, dass er eine Tablette oder was kriegen wird. Da haben wir gar nichts gewusst."
    Auch in anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe haben sie den Triebhemmer getestet. Mit nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen für die Jugendlichen. Sexualität interessierte Schorsch nach seiner Zeit in Kork nicht mehr, beobachteten seine Familie und seine Betreuer im evangelischen Samariterstift in Grafeneck. Dort lebte Schorsch bis zu seinem Tod vor sechs Jahren.