Donnerstag, 16. Mai 2024

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Meditation über das Sein

Jon Fosses Protagonisten stehen oft für sich allein, können nicht kommunizieren. Pausen sind ein geläufiges dramatisches Mittel seiner Stücke. Jetzt ist in Stockholm das neueste Stück dunkler Poesie von Fosse uraufgeführt worden.

Von Agnes Bührig | 12.10.2009
    Eine leere Studiobühne, eingerahmt nur von zwei Holzbänken am linken und rechten Rand der Szene. Ein raumfüllendes Aquarell im Hintergrund deutet dunkel und mystisch eine Fjordlandschaft an, der Bühnenboden wird von einem riesigen aufgemalten Dreieck ausgefüllt. Es markiert einen Raum, in dem sich die Figuren des Stückes begegnen, sagt die schwedische Regisseurin Gunnel Lindblom:

    "Das Dreieck verdichtet den Platz. Wer die Fläche betritt, betritt einen Raum, in dem sich die Figuren aneinander reiben. Hier können sie sich begegnen und das Unaussprechliche in Worte fassen, sich einander nähern, sich suchen. Es sollte ein Unterschied sein zu der Position, wenn man rausgeht aus dem Dreieck. Dann ist man in der großen Dunkelheit."

    Jon Fosse ist ein Meister der Andeutung und des Stakkatos. Seine sechs Figuren stehen mehr oder weniger für sich. Der einsame Mann meditiert über die Einsamkeit, die erste Frau fleht um Zuneigung bei ihrem Partner, die zweite Frau versucht den Partner der ersten zu vergewaltigen. Alles scheint zu passieren, um das Gegenüber zu einer Reaktion herauszufordern. Doch diese kommt nie. Jeder der drei Männer und Frauen ist in seinem eigenen Universum gefangen. Was sie eint, ist das Bild eines gelben Mädchens in gelber Regenjacke, an das sie sich erinnern. Magnus Roosman spielt einen der wortkargten Männer:

    "Die Männer scheinen kapituliert zu haben. Die Frauen reden zwar mehr, wissen aber auch nicht, was sie wollen. Das erinnert mich an das Vakuum, das manchmal im Leben entstehen kann, wenn man gezwungen ist, über sich nachzudenken: Wer bist du, wer sind deine Nächsten, wo stehst du? Auch im alltäglichen Leben fragst du dich oft, ist es richtig, was ich mache, bin ich auf dem richtigen Fest, mit den richtigen Leuten zusammen? Entweder nimmt man die Herausforderung an, über sich selbst nachzudenken und etwas zu ändern oder man wird deprimiert."

    Doch Veränderung würde Bewegung bedeuten, und die gibt es nicht in Fosses neuem Stück. Jede Figur ist mit sich beschäftigt und mit ihren Komplexen. Anders als in seinem letzten Stück "Ich bin der Wind", in dem die beiden Hauptfiguren in Notlage auf See ihr Verhältnis ausfechten müssen, herrscht im "Mädchen mit der gelben Jacke" Stillstand. Das Verhältnis zur Zeit in seiner Dramatik beschreibt Jon Fosse selbst so:

    "Ich kann die Zeitperspektive nutzen, um ein gutes Stück zu schreiben. Meine ersten Theaterstücke waren in dieser Hinsicht ganz klassisch. Später habe ich das geändert. Ich wollte das Bild eines Augenblicks schaffen, wo Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart auf einem Punkt vereint werden, den Moment des Augenblicks. Es geht nicht um die Zeit, sondern darum, dass alles gegenwärtig ist im Jetzt."

    Allenfalls im Bild eines Mädchens in gelber Regenjacke ist die Vergangenheit präsent, meint Regisseurin Gunnel Lindblom. Sie ist das Synonym für eine Verletzung, die stattgefunden hat und jetzt das Gewissen belastet.

    "Man muss sie vielleicht als das schlechte Gewissen jedes Einzelnen deuten, das damit zusammenhängt, dass man sich früher einmal an einem Menschen vergriffen hat, was man zwar bereut, aber nicht ungetan machen kann. Oder weil man Zeuge eines Übergriffs war, den man hätte verhindern können. Alle Figuren tragen schwer an einer Schuld und es ist wichtig, nicht darüber zu sprechen. Wenn man Worte dafür findet, ist man verwundbar, hat Angst, etwas zu verlieren."

    Jon Fosses neues Stück ist eine Meditation über das Sein. Mit seinen knappen Repliken und Wiederholungen bleibt der norwegische Autor überzeugend seiner ganz eigenen Sprache treu. Das Schweigen, das die Regieanweisungen mit sehr kurzer, kurzer und langer Pause vorgeben, hat Gunnel Lindblom meisterlich in spannungsgeladenes Spiel umgesetzt. Die Repliken mit Sinn zu füllen, verlangt dem Zuschauer jedoch einiges ab.