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Meditation über die Realität der Bilder

Andrew Miller entwirft in "Die Optimisten" ein überaus genaues Psychogramm lähmender Seelenqual: das behutsame Bild einer Verletzung, die tief ins Bewusstsein einer von der Allgegenwart medialer Gewaltdarstellung verunsicherten Gesellschaft zu dringen scheint.

Von Thomas David | 24.07.2007
    "In T-shirt, jeans, old brogues, he went on walks that lasted most of the day. The direction was not important."

    Nach dem Massaker bei der Kirche von N., einem namenlosen Ort in Afrika, ist der Fotoreporter Clem Glass wieder zurück nach London geflogen. Clem ist der Protagonist von Andrew Millers neuem Roman. In "Die Optimisten", dem vierten Buch des 1960 in Bath geborenen englischen Schriftstellers, versucht er das Grauen, das er auf seiner Reise sah, zu vergessen - die Bilder Hunderter zu wirren Haufen aufgeworfener Leichen; die mit Axt- oder Machetehieben enthaupteten Toten; das Bild eines "vom Schädel bis zur Hüfte" fast entzweigeschnittenen Kindes. Er hat die Kleidung vernichtet, die er in Afrika trug, Clems Kameratasche steht neben der Tür, er liegt in seiner Wohnung tagelang reglos auf dem Boden: Erinnerung, Empfinden, Clems Instinkte, seine Lebenskraft, alles, so scheint es in den eindringlichen Anfangskapiteln von Millers Roman, ist im mächtigen Sog von Tod und Zerstörung verloren. Als er langsam wieder zu sich kommt, macht Clem in T-Shirt, Jeans und alten Halbschuhen lange Spaziergänge durch London, die Richtung ist nicht wichtig, solange sie ihn nicht zum Wasser führen, wo vielleicht Treibholz schwimmt, das man für abgetrennte Gliedmaßen halten könnte, "eine Plastiktüte zur Form eines Gesichts zerknüllt".

    "A plastic bag crumpled into the form of a face. A piece of driftwood mistaken for a hand."

    Clem überfliegt in den Zeitungen die Nachrichten über das Massaker, er sucht nach dem Namen des Verantwortlichen und ist erleichtert, wenn er nichts über Sylvestre Ruzindana, den geflohenen Anführer der Mörder, findet. In "Die Optimisten" schenkt Andrew Miller seinem traumatisierten Protagonisten alle Zeit, die er zur Rückkehr ins Leben braucht.

    "He wasn't ready yet for Sylvestre Ruzindana. He was a long way from being ready."

    Andrew Miller, der bereits in "Die Gabe des Schmerzes", seinem 1997 erschienenen, mit diversen Preisen ausgezeichneten ersten Roman, das Leiden anderer erkundete, entwirft in "Die Optimisten" ein überaus genaues Psychogramm lähmender Seelenqual: das behutsame Bild einer Verletzung, die tief ins Bewusstsein einer von der Allgegenwart medialer Gewaltdarstellung verunsicherten Gesellschaft zu dringen scheint und Clem Glass ebenso verzehrt wie seine fünf Jahre ältere Schwester Clare. Clare ist eine erfolgreiche Kunsthistorikerin. Das Sehen, das Betrachten von Bildern, die Wahrnehmung der Bilderwelt, ist das zentrale Motiv von Millers mit großer Sorgfalt konstruiertem Roman. Während Clem angesichts des Massakers von N., einer auf dem Völkermord in Ruanda basierenden Gräueltat, in einen Zustand der Apathie verfällt, erleidet Clare bei der Arbeit an einem Essay über Géricaults Gemälde "Das Floß der Medusa" den Rückfall in eine Psychose: "Für das Bild einer Havarie, eines berühmten Schiffbruchs vor der westafrikanischen Küste", so Miller über das 1819 fertiggestellte Werk des französischen Malers, das in "Die Optimisten" zum künstlerischen Sinnbild eines inszenierten, die Autorität der Wirklichkeit herausfordernden Blicks wird und Clems Arbeit als Kriegsfotograf an eine lange Geschichte der "Ikonographie des Leidens" bindet, "hatte [Géricault] in Spitälern gezeichnet und Leichenteile in sein Atelier geschmuggelt in der Hoffnung, dass diese grausigen Beutestücke seinem Bild jene Qualität des Authentischen verleihen würden, welche die ersten Fotografen, die ihre Stative auf der Krim und bei Gettysburg aufstellten, bald für die eigenen Bilder beanspruchen würden."

    Millers Roman ist eine Meditation über die Realität der Bilder, über die "moralische Reaktion auf das Gezeigte", die Susan Sontag in ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten", zum unbedingten Bestandteil der Rezeption von Kriegs- und Greuelbildern erklärt. Als Clem seine Schwester zum ersten Mal in der Klinik besucht, sitzt sie teilnahmslos auf einem Stuhl wie in Trauer.

    "Clare´s demons are obviously inner ones. What comes to get her, comes to get her through her own kind of psychosis. Clem, in a sense, has gone out and found it, found his own demon out in the work that he does. But yes, I was interested in them both having to go through a similar kind of healing, a similar kind of process."

    Clare, so Andrew Miller im Interview, habe mit den inneren Dämonen ihrer Krankheit zu kämpfen, während Clem gewissermaßen hinaus in die Welt gefahren sei, um auf seinen Dämon zu treffen: Miller lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sein Roman allmählich auf den Höhepunkt einer abermaligen Konfrontation zuläuft, für die Clem all seinen Mut, seinen Gerechtigkeitssinn und seinen Zorn aufbringen muss. Bevor er Sylvestre Ruzindana, dem aalglatten, für das brutale Massaker von N. verantwortlichen Politiker, schließlich in einem Café in Brüssel gegenübersitzt, zwingen Clem die Sorge um Clare, die Liebe zu seiner Schwester und seine Verantwortungsgefühle, nach und nach zur Überwindung der lähmenden Passivität, die von ihm Besitz ergriffen hat und bei einem von Miller mit präzisem Kalkül beschriebenen Zwischenfall in einem Flugzeug, in dem Clem einen betrunkenen Passagier zusammenschlägt, der eine Stewardess belästigt, erstmals durchbrochen wird.

    "As a photographer, of course, professionally he´s not in the business of taking action other than to record, to witness - they do basically have a passive role and perhaps, sometimes, that´s difficult for them. But that's what Clem´s work is. It is just unfortunate that he becomes active again through beating this man on the plane. Although after that he´s then freed, and being back in the world again he´s at least able to help his sister a little bit which is his good act in the world through this book."

    Es sei natürlich ein unglücklicher Umstand, so Miller, dass Clem seine Handlungsunfähigkeit ausgerechnet durch einen Akt der Gewalt überwinde - durch eine gewalttätige Überreaktion, die von den anderen Passagieren des Flugzeugs anfangs mit Erschrecken beobachtet und dann als Zivilcourage beklatscht wird: Der Konflikt allerdings, den Miller in diesem zentralen Moment von "Die Optimisten" auf spannende Weise veranschaulicht, bewegt den ganzen Roman, der seinen Figuren, aber auch dem Leser, mit einer für die Literatur der Gegenwart eher seltenen Konsequenz eine moralische Bewertung des Geschehens abverlangt und auch das Betrachten von Bildern zu einer verantwortungsvollen, aktives Handeln herausfordernden Angelegenheit macht. Clem nimmt sich seiner Schwester an, er begibt sich mit ihr in die Abgeschiedenheit eines alten Cottage: Die liebevolle Zuwendung, mit der er und eine umsichtige Ärztin Clares allmähliche Genesung begleiten, der zurückhaltende Optimismus, dass Clares Rückkehr in die Normalität ihres Lebens möglich ist, verleiht schließlich auch Clems eigenen Leben neuen Sinn. Die liebevolle Zuwendung, mit der Andrew Miller seine Figuren betrachtet, die zärtliche, niemals jedoch sentimentale Umsicht, mit der er sie auf ihrem Leidensweg begleitet, macht "Die Optimisten" zur Attraktion.

    "At the heart of what I am trying to do is attend, not to people but to the world itself, also to things, to stuff, not just to people but also to the inanimate world. That´s a kind of love, I think, when you attend that way to a character. I think, novels are love letters to the world in some way."


    Andrew Miller: Die Optimisten
    Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
    Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2007