"Ein neuer Aspekt ist die Betonung von Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich zu einem neuen Forschungsfeld zusammenschließen, den so genannten Mittelmeerstudien. Das wurde so vorher noch nicht gemacht. Es ist viel Arbeit, aber sehr interessant. Die Arbeit besteht darin, vielschichtig zu denken und das ist äußerst relevant",
sagt Thierry Fabre von der Maison Méditerranéenne des Sciences de l’Homme in Aix-en-Provence. Er ist der wissenschaftliche Koordinator und sozusagen der Erfinder von "RAMSES2", diesem Netzwerk aus 33 Forschungsinstituten, die den euromediterranen Dialog auch in Zeiten der Krise fortführen und weiterentwickeln wollen.
"Es sind 33 Forschungsinstitutionen beteiligt, aus Marokko, Tunesien, Ägypten, Slowenien, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Finnland und so weiter. Also das Netzwerk ist wirklich riesig. Schritt für Schritt gelingt uns eine Art Integration. Das ist das vorrangige Ziel des Exzellenznetzwerks: eine Integration der Forschung im Europäischen Gefüge! Dabei ist es unbedingt wichtig zu sagen, dass wir nicht nur europäisch sind. Es gibt auch eine süd- und ostmediterrane Art zu arbeiten und zu denken. Als Europäer müssen wir offen sein und nicht eurozentrisch denken."
"RAMSES2" ist entstanden aus dem Geiste des Barcelona-Prozesses, einer Initiative der Europäischen Union und zwölf Mittelmeer-Anrainerstaaten, die sich 1995 mit dem Ziel gegründet hat, analog zum Helsinki-Prozess eine euromediterrane Partnerschaft zu etablieren, die auf den Säulen Frieden, Stabilität, gemeinsamer Wohlstand und Demokratisierung der gesamten Region ruht.
"Das war das erste Mal, dass sich so viele Staaten gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, und war insofern ein multilateraler Diplomatie- Erfolg der Europäer",
meint Isabel Schäfer, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und bei RAMSES für das Forschungsprojekt "Mediterranean Policies from Above and from below" zuständig:
"Er läuft jetzt seit 1995, ist durch diverse Krisen gegangen, ist aber immer noch am Leben und insofern ein wichtiger Bezugsrahmen sowohl für Regierungen als auch für zivilgesellschaftliche Akteure."
Doch die hohen Erwartungen, die sich 1995 an den Barcelona-Prozess knüpften, wurden nicht erfüllt. Die andauernde Krise zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarländern, der Kampf gegen Terrorismus als Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001, die wachsende Polarisierung zwischen dem "Westen" einerseits und dem "Islam" auf der anderen Seite, die Flüchtlingspolitik der EU - vieles spricht gegen eine euromediterrane Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe.
Insofern gleicht das Engagement der an "RAMSES" beteiligten Wissenschaftler dem Pfeifen im dunklen Walde: Wo finden sich, auch jenseits der staatlichen Institutionen, Partner, die interessiert sind an der Entwicklung einer friedlichen Beziehung und die bereit sind, sich dafür einzusetzen? Isabel Schäfer:
"Unsere Hauptthese ist eigentlich, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure sich schon viel mehr vernetzt haben, als das in Brüssel wahrgenommen wird, und das der etwas vor sich hindümpelnde Barcelona-Prozess etwas mehr Dynamik und Energie durch das Engagement ‚von unten’ bekommen müsste."
"Dann gibt es die Ebene von so genannten Nicht-Regierungs-Organisationen, also denjenigen, die die Zivilgesellschaft vertreten und die zu bestimmten Themen arbeiten: Frauenarbeit, Umweltschutz, Stadtentwicklung, Verbesserung von Lebensqualität in urbanen Siedlungen. Und da gibt es eine Menge, hier würde man sagen, Bürgerinitiativen, Gruppen, die sich für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen engagieren und das ist eine interessante Entwicklung auch. Dann gibt es natürlich Universitäten, Akademiker, Forschungszentren, Netzwerke, von solchen, die an interessanten Themen dran sind",
meint auch Professorin Cilja Harders, Leiterin der Arbeitstelle "Politik des Vorderen Orients" am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der FU Berlin. Das erste Ziel des RAMSES-Programms war zunächst die Vernetzung der Wissenschafter; ein Großteil der insgesamt 3,4 Millionen Euro, die die EU zur Verfügung stellt, sind für Reisen und Konferenzen veranschlagt.
Doch Forscher wollen forschen und deshalb war das zweite Ziel, Studien zu initialisieren, deren Ergebnisse ins Projekt miteinfließen. Eine Fragestellung war die nach den sogenannten "Akteuren des Wandels". Und da zeigt sich schon, dass die Grenzen europäischer Vorstellungen vom idealen Gesprächspartner sehr schnell erreicht und notfalls auch überschritten werden. Cilja Harders:
"Die wichtigste Unterscheidung ist immer zwischen säkularen, also solchen, die sich nicht so stark religiös legitimieren, und religiösen Akteuren. Und der große Streit innerhalb der EUM ist eben: wie umgehen mit den islamischen Akteuren? Weil es da eben die Frage gibt: Wie demokratisch sind die eigentlich? Ist deren Wertebindung problematisch? Da gibt es eine Menge Skepsis. Wir als Wissenschaftler stellen aber fest: Es sind gerade diese Gruppen, die in den Augen der Bürgerinnen und Bürger, die besonders effizient und sichtbar zur Lösung von lokalen Problemen beitragen. Und wir als Wissenschaftler wissen auch: Es gibt ein breites Spektrum, also der islamisch-islamistische Bereich ist sehr, sehr breit, von solchen Gruppen, die sich in den parlamentarischen Prozess einbringen und solchen, wo man eben unterstellen kann, dass das für sie eine Fassade ist."
Beliebt machen sich die Wissenschaftler bei den Politikern mit solchen Erkenntnissen nicht, ist doch der Dialog mit Islamisten beim Barcelona-Prozess absolutes Tabu- Thema. Aber auch Isabel Schäfer meint:
"Also, man kann sie nicht ignorieren und nicht so tun, als ob sie nicht da wären. Natürlich ist die Zielsetzung eine andere als die, die die EU sich wünscht. Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass gerade moderate Islamisten zum Beispiel in Ägypten demokratische Spielregeln einfordern und Anti-Korruptionsmaßnahmen, das heißt, in bestimmten Fragen könnten sie tatsächlich neue Ansprechpartner für die EU auch sein."
"Die Aufgabe von Forschern ist es, nicht zu denken wie Politiker oder die verschiedene Politik zu analysieren",
sagt Thierry Fabre und fordert zu differenzierter Betrachtung des Problems auf. So ist zum Beispiel allein der Begriff "Zivilgesellschaft" ein westliches Konzept, das auf den politischen Bühnen des Vorderen Orients erst seit kurzem eine Rolle spielt. Und gerade in diesen neuen zivilgesellschaftlichen Institutionen wie Bürgerinitiativen oder Gemeinderäten engagieren sich islamistische Gruppierungen. Wenn man als Europäer die lokalen Zusammenhänge nicht genau kennt, spricht und unterstützt man schnell die falschen Leute, so das Ergebnis einer Studie, die Salam Kawakibi vom Democracy Transition Center in Paris betreute. Denn auch die Gleichung privates Engagement gleich freies, demokratisches Engagement funktioniert in arabischen und nordafrikanischen Gesellschaften nicht ohne weiteres.
Ein anderes Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Rolle der Frauen in städtischen Gesellschaften. Ciljy Harders:
"Ein ganz wichtiges Feld, wo sich das äußert und wo viele Konflikte auch ausgetragen werden zwischen Staat, Gesellschaft und Opposition ist das Geschlechterverhältnis. Das mobilisiert die Menschen sehr und zwar hier wie da. Also die Kopftuchfrage ist in Kairo ein heißes Eisen und sie ist es bei uns. Und darin kann man eben auch sehen, dass die Dinge eng verbunden sind: Es ist nicht so getrennt, der Mittelmeerraum von Berlin und vielleicht hängen Berlin und Paris und Casablanca durch die Menschen, die migrieren, auch enger zusammen als wir uns das eingestehen wollen."
Auch hier ging es wieder darum, Vorurteile abzubauen. Isabel Schäfer:
"Wir haben uns sehr bemüht, vor allem auch junge Nachwuchswissenschaftlerinnen in das Projekt einzubinden, das ist uns auch sehr gut gelungen , denke ich, mit viel versprechenden Forscherinnen wie Nahed Ed Saldin von der Universität Kairo, aber auch bei den beteiligten Wissenschaftlerinnen kann man nicht sagen, alle sind säkular, westlich liberal orientiert, sondern auch da sind religiöse Wissenschaftlerinnen dabei, aber nicht islamistisch in einem politischen Sinne."
Die "richtigen" Akteure, mit denen interkulturell über gesellschaftlichen Wandel geredet werden kann, zu finden ist kompliziert. Jeder hat eine andere Perspektive und eine andere Idee! Sichtbar auf der Tagung, die Ende Juni in Berlin stattfand:
"Als ein Beispiel kann man unsere letzte Tagung nehmen, da ging es ja auch um Akteure des Wandels und da waren fünf Disziplinen vertreten aus fünf Ländern. Da war zum Beispiel ein Geograph, der Sozial-Geographie macht, ein Franzose, der einen sehr lebendigen Vortrag gehalten hat, seine These war: Migranten sind wichtige Ansprechpartner."
Dass die Migrationspolitik der EU einen repressiven Ansatz hat und dass sie sich viel stärker um die menschlichen Dimensionen des Flüchtlingsproblems kümmern muss, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft nicht verlieren will, war der Tenor des Vortrages von Ali Bensaad vom Institut de Recherches et d’ etudes sur le Monde Arabe et Musulman in Aix-en provence. Das Mittelmeer, einer der ältesten Kulturräume der Menschheitsgeschichte, darf nicht zu einer Mauer werden, meint auch Professorin Cilja Harders von der FU Berlin:
"Und dazu nur Lösungen aus sicherheitspolitischer Perspektive anzubieten ist natürlich aus wissenschaftlicher Sicht ein großer Fehler. Das produziert Dauerdramen in den entsprechenden Staaten, bei den betroffenen Menschen, die ja ihr Leben aufs Spiel setzen, um Europa zu erreichen, es produziert in unserer Gesellschaft Ausgrenzung, Abgrenzung, Stereotypen, Feindbilder. Und das, denk ich, ist ein ganz wichtiger Punkt, dass es wissenschaftliche Orte gibt, die es möglich machen, darüber zu sprechen: Was sind die Interessen, wo widersprechen sie sich auch? Die Orte müssen offen gehalten werden: Wenn es die nicht mehr gibt, dann kann man ja nicht mal mehr darüber sprechen."
Migrantennetzwerke und Menschenrechtsorganisationen werden von RAMSES deshalb als wichtige Gesprächspartner gesehen, die unbedingt auch in politischen Entscheidungsfindungen eine Rolle spielen sollen.
Den Untersuchungen von RAMSES liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die Staaten rund ums Mittelmeer in den nächsten Jahren stark verändern. Da ist zum einen die demographische Entwicklung, die im alternden Europa genau umgekehrt zu den südlichen Mittelmeerstaaten verläuft. Da sind Staaten, bei denen es sich in kurzer Zeit entscheiden wird, ob ihre Entwicklung demokratisch vonstatten gehen wird oder nicht. Eine Gemeinsamkeit jedoch gibt es, und auch deren Folgen wollen überlegt sein:
"Wir haben überall eine Jugend, die MTV guckt, und die Wünsche und Phantasien hat - und das geht von Marokko bis Iran - , auf die die herrschenden Regierungen wenig Antworten wissen, und das ist auch für die vor Ort elementar wichtig, sich damit zu beschäftigen. Das sind die Akteure von morgen."
Und so sind die Massenmedien ein weiterer Forschungsschwerpunkt von RAMSES: Denn das Internet verbindet auch scheinbar getrennte Welten. Harders:
"Handy, Satellit, Internet hat meiner Ansicht nach für die arabische Welt mindestens soviel verändert wie die großen Zeiten des Ölreichtums und des Wohlstandes, weil damit eine Demokratisierung des Informationszuganges stattgefunden hat. Und darüber hat sich die Jugend ein riesiges Fenster zur Welt geschaffen und hat sich auch die Politik ein riesiges Fenster geschaffen."
RAMSES - das ist ein Forum für freie Rede und Gedankenentwicklung, sagt der Initiator und Koordinator des Thierry Fabre. Ein wenig Utopiefähigkeit gehört dazu, wenn die Wissenschaftler Szenarien zukünftigen europäisch-mediterranen Zusammenlebens entwerfen. Mitte der achtziger Jahre, so Fabre, hätte schließlich auch noch niemand mit dem Fall der Berliner Mauer gerechnet. Doch kein Forschungsprojekt über den Mittelmeerraum kommt ohne Konfliktforschung aus. Harders:
"Das andere wichtige Thema sind natürlich Konflikte, weil sowohl die Konflikte zwischen Israel und Palästina, aber auch in der Westsahara und jetzt im Irak stark ausstrahlen auf die Nachbarn und die Gesamtsituation in den Mittelmeerstaaten. Weshalb die Erforschung der Konflikte und Konfliktdynamiken, und was wirkt da eigentlich auf was? Und was bedeutet Irak für Syrien und Libanon und für die Türkei? Das ist natürlich ein ganz wichtiges Thema."
Fabre: "”In Teilen der mediterranen Welt gibt es echte, offene Konflikte, im Libanon, Palästina, Israel, in Zypern. Aber wir müssen die Verbindungen bewahren, besonders auf der Basis von geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Wir müssen darüber nachdenken, Stillstand für die nächsten 20 Jahre ist nicht möglich.""
Die EU-Exzellenzinitiative "RAMSES2" läuft noch bis 2010. Die Ergebnisse der einzelnen Studien sollen in den kommenden Jahren den Politikern der beteiligten Länder als Entscheidungsgrundlage dienen. Doch einfache Lösungsvorschläge werden die Wissenschaftler nicht liefern können. Harders:
"Wir versuchen ja eigentlich, bewusstseinsverändernd zu wirken und das ist ein bisschen anders, als wenn man Ingenieur ist und die Aufgabe hat, etwas zu erfinden und nach drei Jahren sagen kann: ‚Hier. Haben wir euch gebaut. Funktioniert.’ So einfach ist das in diesem Fall nicht. Wir wollten kommunizieren zu den Leuten in der deutschen Außenpolitik, aber auch zu denen, die in der EU etwas zu sagen haben: Die Euro-Med-Partnerschaft hat ihre Tücken, es gibt Ebenen, wo sie nicht gut läuft, aber sie ist das Beste, was wir haben. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken, sie zu verbessern und sie nicht umstandslos in die Nachbarschaftspolitik zu integrieren."
Fabre: "”Wir müssen intellektuelle und kulturelle Verbindungen stärken. Das war damals dieselbe Idee des Wissenschaftskollegs in Berlin, das noch vor dem Fall der Mauer gegründet wurde und eine intellektuelle Verbindung zwischen Ost und West sein sollte. Jetzt ist es unsere Arbeit, vergleichbare Verbindungen zwischen Europa und dem südöstlichen Mittelmeerraum zu ermöglichen – nicht Brücken abbrechen, sondern Brücken bauen, und zwar auf der Grundlage von Wissen. Ich glaube, das ist der beste Weg für die Zukunft.""
sagt Thierry Fabre von der Maison Méditerranéenne des Sciences de l’Homme in Aix-en-Provence. Er ist der wissenschaftliche Koordinator und sozusagen der Erfinder von "RAMSES2", diesem Netzwerk aus 33 Forschungsinstituten, die den euromediterranen Dialog auch in Zeiten der Krise fortführen und weiterentwickeln wollen.
"Es sind 33 Forschungsinstitutionen beteiligt, aus Marokko, Tunesien, Ägypten, Slowenien, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Finnland und so weiter. Also das Netzwerk ist wirklich riesig. Schritt für Schritt gelingt uns eine Art Integration. Das ist das vorrangige Ziel des Exzellenznetzwerks: eine Integration der Forschung im Europäischen Gefüge! Dabei ist es unbedingt wichtig zu sagen, dass wir nicht nur europäisch sind. Es gibt auch eine süd- und ostmediterrane Art zu arbeiten und zu denken. Als Europäer müssen wir offen sein und nicht eurozentrisch denken."
"RAMSES2" ist entstanden aus dem Geiste des Barcelona-Prozesses, einer Initiative der Europäischen Union und zwölf Mittelmeer-Anrainerstaaten, die sich 1995 mit dem Ziel gegründet hat, analog zum Helsinki-Prozess eine euromediterrane Partnerschaft zu etablieren, die auf den Säulen Frieden, Stabilität, gemeinsamer Wohlstand und Demokratisierung der gesamten Region ruht.
"Das war das erste Mal, dass sich so viele Staaten gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, und war insofern ein multilateraler Diplomatie- Erfolg der Europäer",
meint Isabel Schäfer, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und bei RAMSES für das Forschungsprojekt "Mediterranean Policies from Above and from below" zuständig:
"Er läuft jetzt seit 1995, ist durch diverse Krisen gegangen, ist aber immer noch am Leben und insofern ein wichtiger Bezugsrahmen sowohl für Regierungen als auch für zivilgesellschaftliche Akteure."
Doch die hohen Erwartungen, die sich 1995 an den Barcelona-Prozess knüpften, wurden nicht erfüllt. Die andauernde Krise zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarländern, der Kampf gegen Terrorismus als Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001, die wachsende Polarisierung zwischen dem "Westen" einerseits und dem "Islam" auf der anderen Seite, die Flüchtlingspolitik der EU - vieles spricht gegen eine euromediterrane Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe.
Insofern gleicht das Engagement der an "RAMSES" beteiligten Wissenschaftler dem Pfeifen im dunklen Walde: Wo finden sich, auch jenseits der staatlichen Institutionen, Partner, die interessiert sind an der Entwicklung einer friedlichen Beziehung und die bereit sind, sich dafür einzusetzen? Isabel Schäfer:
"Unsere Hauptthese ist eigentlich, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure sich schon viel mehr vernetzt haben, als das in Brüssel wahrgenommen wird, und das der etwas vor sich hindümpelnde Barcelona-Prozess etwas mehr Dynamik und Energie durch das Engagement ‚von unten’ bekommen müsste."
"Dann gibt es die Ebene von so genannten Nicht-Regierungs-Organisationen, also denjenigen, die die Zivilgesellschaft vertreten und die zu bestimmten Themen arbeiten: Frauenarbeit, Umweltschutz, Stadtentwicklung, Verbesserung von Lebensqualität in urbanen Siedlungen. Und da gibt es eine Menge, hier würde man sagen, Bürgerinitiativen, Gruppen, die sich für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen engagieren und das ist eine interessante Entwicklung auch. Dann gibt es natürlich Universitäten, Akademiker, Forschungszentren, Netzwerke, von solchen, die an interessanten Themen dran sind",
meint auch Professorin Cilja Harders, Leiterin der Arbeitstelle "Politik des Vorderen Orients" am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der FU Berlin. Das erste Ziel des RAMSES-Programms war zunächst die Vernetzung der Wissenschafter; ein Großteil der insgesamt 3,4 Millionen Euro, die die EU zur Verfügung stellt, sind für Reisen und Konferenzen veranschlagt.
Doch Forscher wollen forschen und deshalb war das zweite Ziel, Studien zu initialisieren, deren Ergebnisse ins Projekt miteinfließen. Eine Fragestellung war die nach den sogenannten "Akteuren des Wandels". Und da zeigt sich schon, dass die Grenzen europäischer Vorstellungen vom idealen Gesprächspartner sehr schnell erreicht und notfalls auch überschritten werden. Cilja Harders:
"Die wichtigste Unterscheidung ist immer zwischen säkularen, also solchen, die sich nicht so stark religiös legitimieren, und religiösen Akteuren. Und der große Streit innerhalb der EUM ist eben: wie umgehen mit den islamischen Akteuren? Weil es da eben die Frage gibt: Wie demokratisch sind die eigentlich? Ist deren Wertebindung problematisch? Da gibt es eine Menge Skepsis. Wir als Wissenschaftler stellen aber fest: Es sind gerade diese Gruppen, die in den Augen der Bürgerinnen und Bürger, die besonders effizient und sichtbar zur Lösung von lokalen Problemen beitragen. Und wir als Wissenschaftler wissen auch: Es gibt ein breites Spektrum, also der islamisch-islamistische Bereich ist sehr, sehr breit, von solchen Gruppen, die sich in den parlamentarischen Prozess einbringen und solchen, wo man eben unterstellen kann, dass das für sie eine Fassade ist."
Beliebt machen sich die Wissenschaftler bei den Politikern mit solchen Erkenntnissen nicht, ist doch der Dialog mit Islamisten beim Barcelona-Prozess absolutes Tabu- Thema. Aber auch Isabel Schäfer meint:
"Also, man kann sie nicht ignorieren und nicht so tun, als ob sie nicht da wären. Natürlich ist die Zielsetzung eine andere als die, die die EU sich wünscht. Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass gerade moderate Islamisten zum Beispiel in Ägypten demokratische Spielregeln einfordern und Anti-Korruptionsmaßnahmen, das heißt, in bestimmten Fragen könnten sie tatsächlich neue Ansprechpartner für die EU auch sein."
"Die Aufgabe von Forschern ist es, nicht zu denken wie Politiker oder die verschiedene Politik zu analysieren",
sagt Thierry Fabre und fordert zu differenzierter Betrachtung des Problems auf. So ist zum Beispiel allein der Begriff "Zivilgesellschaft" ein westliches Konzept, das auf den politischen Bühnen des Vorderen Orients erst seit kurzem eine Rolle spielt. Und gerade in diesen neuen zivilgesellschaftlichen Institutionen wie Bürgerinitiativen oder Gemeinderäten engagieren sich islamistische Gruppierungen. Wenn man als Europäer die lokalen Zusammenhänge nicht genau kennt, spricht und unterstützt man schnell die falschen Leute, so das Ergebnis einer Studie, die Salam Kawakibi vom Democracy Transition Center in Paris betreute. Denn auch die Gleichung privates Engagement gleich freies, demokratisches Engagement funktioniert in arabischen und nordafrikanischen Gesellschaften nicht ohne weiteres.
Ein anderes Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Rolle der Frauen in städtischen Gesellschaften. Ciljy Harders:
"Ein ganz wichtiges Feld, wo sich das äußert und wo viele Konflikte auch ausgetragen werden zwischen Staat, Gesellschaft und Opposition ist das Geschlechterverhältnis. Das mobilisiert die Menschen sehr und zwar hier wie da. Also die Kopftuchfrage ist in Kairo ein heißes Eisen und sie ist es bei uns. Und darin kann man eben auch sehen, dass die Dinge eng verbunden sind: Es ist nicht so getrennt, der Mittelmeerraum von Berlin und vielleicht hängen Berlin und Paris und Casablanca durch die Menschen, die migrieren, auch enger zusammen als wir uns das eingestehen wollen."
Auch hier ging es wieder darum, Vorurteile abzubauen. Isabel Schäfer:
"Wir haben uns sehr bemüht, vor allem auch junge Nachwuchswissenschaftlerinnen in das Projekt einzubinden, das ist uns auch sehr gut gelungen , denke ich, mit viel versprechenden Forscherinnen wie Nahed Ed Saldin von der Universität Kairo, aber auch bei den beteiligten Wissenschaftlerinnen kann man nicht sagen, alle sind säkular, westlich liberal orientiert, sondern auch da sind religiöse Wissenschaftlerinnen dabei, aber nicht islamistisch in einem politischen Sinne."
Die "richtigen" Akteure, mit denen interkulturell über gesellschaftlichen Wandel geredet werden kann, zu finden ist kompliziert. Jeder hat eine andere Perspektive und eine andere Idee! Sichtbar auf der Tagung, die Ende Juni in Berlin stattfand:
"Als ein Beispiel kann man unsere letzte Tagung nehmen, da ging es ja auch um Akteure des Wandels und da waren fünf Disziplinen vertreten aus fünf Ländern. Da war zum Beispiel ein Geograph, der Sozial-Geographie macht, ein Franzose, der einen sehr lebendigen Vortrag gehalten hat, seine These war: Migranten sind wichtige Ansprechpartner."
Dass die Migrationspolitik der EU einen repressiven Ansatz hat und dass sie sich viel stärker um die menschlichen Dimensionen des Flüchtlingsproblems kümmern muss, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft nicht verlieren will, war der Tenor des Vortrages von Ali Bensaad vom Institut de Recherches et d’ etudes sur le Monde Arabe et Musulman in Aix-en provence. Das Mittelmeer, einer der ältesten Kulturräume der Menschheitsgeschichte, darf nicht zu einer Mauer werden, meint auch Professorin Cilja Harders von der FU Berlin:
"Und dazu nur Lösungen aus sicherheitspolitischer Perspektive anzubieten ist natürlich aus wissenschaftlicher Sicht ein großer Fehler. Das produziert Dauerdramen in den entsprechenden Staaten, bei den betroffenen Menschen, die ja ihr Leben aufs Spiel setzen, um Europa zu erreichen, es produziert in unserer Gesellschaft Ausgrenzung, Abgrenzung, Stereotypen, Feindbilder. Und das, denk ich, ist ein ganz wichtiger Punkt, dass es wissenschaftliche Orte gibt, die es möglich machen, darüber zu sprechen: Was sind die Interessen, wo widersprechen sie sich auch? Die Orte müssen offen gehalten werden: Wenn es die nicht mehr gibt, dann kann man ja nicht mal mehr darüber sprechen."
Migrantennetzwerke und Menschenrechtsorganisationen werden von RAMSES deshalb als wichtige Gesprächspartner gesehen, die unbedingt auch in politischen Entscheidungsfindungen eine Rolle spielen sollen.
Den Untersuchungen von RAMSES liegt die Überlegung zugrunde, dass sich die Staaten rund ums Mittelmeer in den nächsten Jahren stark verändern. Da ist zum einen die demographische Entwicklung, die im alternden Europa genau umgekehrt zu den südlichen Mittelmeerstaaten verläuft. Da sind Staaten, bei denen es sich in kurzer Zeit entscheiden wird, ob ihre Entwicklung demokratisch vonstatten gehen wird oder nicht. Eine Gemeinsamkeit jedoch gibt es, und auch deren Folgen wollen überlegt sein:
"Wir haben überall eine Jugend, die MTV guckt, und die Wünsche und Phantasien hat - und das geht von Marokko bis Iran - , auf die die herrschenden Regierungen wenig Antworten wissen, und das ist auch für die vor Ort elementar wichtig, sich damit zu beschäftigen. Das sind die Akteure von morgen."
Und so sind die Massenmedien ein weiterer Forschungsschwerpunkt von RAMSES: Denn das Internet verbindet auch scheinbar getrennte Welten. Harders:
"Handy, Satellit, Internet hat meiner Ansicht nach für die arabische Welt mindestens soviel verändert wie die großen Zeiten des Ölreichtums und des Wohlstandes, weil damit eine Demokratisierung des Informationszuganges stattgefunden hat. Und darüber hat sich die Jugend ein riesiges Fenster zur Welt geschaffen und hat sich auch die Politik ein riesiges Fenster geschaffen."
RAMSES - das ist ein Forum für freie Rede und Gedankenentwicklung, sagt der Initiator und Koordinator des Thierry Fabre. Ein wenig Utopiefähigkeit gehört dazu, wenn die Wissenschaftler Szenarien zukünftigen europäisch-mediterranen Zusammenlebens entwerfen. Mitte der achtziger Jahre, so Fabre, hätte schließlich auch noch niemand mit dem Fall der Berliner Mauer gerechnet. Doch kein Forschungsprojekt über den Mittelmeerraum kommt ohne Konfliktforschung aus. Harders:
"Das andere wichtige Thema sind natürlich Konflikte, weil sowohl die Konflikte zwischen Israel und Palästina, aber auch in der Westsahara und jetzt im Irak stark ausstrahlen auf die Nachbarn und die Gesamtsituation in den Mittelmeerstaaten. Weshalb die Erforschung der Konflikte und Konfliktdynamiken, und was wirkt da eigentlich auf was? Und was bedeutet Irak für Syrien und Libanon und für die Türkei? Das ist natürlich ein ganz wichtiges Thema."
Fabre: "”In Teilen der mediterranen Welt gibt es echte, offene Konflikte, im Libanon, Palästina, Israel, in Zypern. Aber wir müssen die Verbindungen bewahren, besonders auf der Basis von geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung. Wir müssen darüber nachdenken, Stillstand für die nächsten 20 Jahre ist nicht möglich.""
Die EU-Exzellenzinitiative "RAMSES2" läuft noch bis 2010. Die Ergebnisse der einzelnen Studien sollen in den kommenden Jahren den Politikern der beteiligten Länder als Entscheidungsgrundlage dienen. Doch einfache Lösungsvorschläge werden die Wissenschaftler nicht liefern können. Harders:
"Wir versuchen ja eigentlich, bewusstseinsverändernd zu wirken und das ist ein bisschen anders, als wenn man Ingenieur ist und die Aufgabe hat, etwas zu erfinden und nach drei Jahren sagen kann: ‚Hier. Haben wir euch gebaut. Funktioniert.’ So einfach ist das in diesem Fall nicht. Wir wollten kommunizieren zu den Leuten in der deutschen Außenpolitik, aber auch zu denen, die in der EU etwas zu sagen haben: Die Euro-Med-Partnerschaft hat ihre Tücken, es gibt Ebenen, wo sie nicht gut läuft, aber sie ist das Beste, was wir haben. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken, sie zu verbessern und sie nicht umstandslos in die Nachbarschaftspolitik zu integrieren."
Fabre: "”Wir müssen intellektuelle und kulturelle Verbindungen stärken. Das war damals dieselbe Idee des Wissenschaftskollegs in Berlin, das noch vor dem Fall der Mauer gegründet wurde und eine intellektuelle Verbindung zwischen Ost und West sein sollte. Jetzt ist es unsere Arbeit, vergleichbare Verbindungen zwischen Europa und dem südöstlichen Mittelmeerraum zu ermöglichen – nicht Brücken abbrechen, sondern Brücken bauen, und zwar auf der Grundlage von Wissen. Ich glaube, das ist der beste Weg für die Zukunft.""