Archiv


Medizin für gute Noten

Die Zahlen sind kaum zu glauben: Der Verbrauch von Methylphenidat, das zumeist sogenannten hyperaktiven Grundschülern verabreicht wird, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch erhöht. Wurden 1993 noch 34 Kilogramm in Deutschland verabreicht, waren es im vergangenen Jahr 1221 Kilogramm. Ärzte und Psychologen warnen vor den Langzeitfolgen.

Von Michael Engel |
    Endlich Pause. Eine immer größer werdende Zahl von Kindern, so die Beobachtung der Lehrerin Heidrun Förster, kann sich schon im Unterricht kaum zügeln.

    Heidrun Förster: "Ja, ich schaue mir das Kind erst mal genau an und schreibe mir jeden Tag auf, was mir aufgefallen ist. Dann gibt es ziemlich schnell Elterngespräche. Damit wir dann recherchieren können, woran liegt es, dass das Kind so unruhig ist. Und dann biete ich den Eltern an, Ärzte hinzuzuziehen."

    Und dann gibt es in der Regel "Ritalin", Marktführer unter den ADHS-Prä¬pa¬raten, das die Kinder über Jahre, meist bis zur Pubertät, begleitet. Die Erfolge geben den Befürwortern Recht, denn die Medizin macht gute Noten. Mitglieder der "ADHS Konferenz", zu der Psychotherapeuten, Pädagogen und Sozialarbeiter gehören, warnen allerdings vor einer allzu sorglosen Verschreibung. Wolfgang Bergmann, Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie, Hannover.

    Wolfgang Bergmann: "Zum einen greifen Kinderärzte, aber auch Kinderpsychiater zum Teil aus Trägheit, zum Teil aus Unkenntnis, zum Teil, um die Eltern zufrieden zu stellen, viel zu schnell zum Verschreibungsblock. Aber: Man darf sich nicht täuschen. Den Kindern geht es wirklich schlechter. Sie sind auch depressiver. Wir rechnen heute mit 30 Prozent depressiver Kinder. Dieses Gesamtbild führt dann zu einer Steigerung. Es ist letztlich Ausdruck einer rasant zunehmenden Identitätsnot moderner Kinder."

    Aufmerksamkeitsstörungen sind, anders als Fieber, Mumps oder Röteln, schwierig zu diagnostizieren. Es gibt Fragebögen, Verhaltensbeobachtungen, Schilderungen der Eltern. Am Ende muss der Arzt abwägen, ob Tabletten zum Einsatz kommen sollen. Dr. Gisbert Voigt ist niedergelassener Kinderarzt, zugleich Vizepräsident der Ärztekammer Niedersachsen. Eine laxe Verschreibungspraxis kann der Ärztevertreter nicht erkennen.

    Dr. Gisbert Voigt: "Wenn man die Zahlen nimmt, die heute in der Therapie - auch in der medikamentösen Therapie zum Tragen kommen und sie auch einmal im internationalen Vergleich sieht, dann muss man sagen, ist es nicht so, dass wir jetzt in Deutschland letztendlich häufiger oder intensiver oder mehr an medikamentöser Therapie verordnen, sondern wir haben eher über die Jahre einen An¬gleich an internationale Standards. Das heißt, es werden heute die Kinder und Jugendlichen therapiert, die einen Bedarf haben und die früher eben nicht behandelt worden sind."

    Studien indes ergaben, dass 50 Prozent der ADHS-Kinder falsch diagnostiziert sind und deshalb gar kein Methylphenidat bekommen dürften. Von den ADHS-Kindern wiederum benötigt nur jedes Dritte ein Medikament. Noch einmal Wolfgang Bergmann:

    "Also Langzeitmedikation eines Methylphenidats, das immerhin in der Wirkungsweise dem Kokain zu vergleichen ist und nicht zufällig unter das Betäubungsmittelgesetz fällt: Die Langzeitwirkung ist in jedem Fall fatal."

    Die Liste der Nebenwirkungen ist lang: Kleinwuchs, Muskelzuckungen – sogenann¬te Tics, Halluzinationen, Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems. Die ADHS Konferenz empfiehlt: Medikamente höchstens zwölf Monate lang zu verabreichen. Parallel dazu - Psychotherapie - und auch danach, um die tieferen Ursachen zu erkunden. Meist sind es familiäre Probleme, Stress durch Scheidung, Erziehungsdefizite oder extrem hohe Erwartungen der Eltern, die Kinder unruhig werden lassen.