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Medizin
Leben im Darm

Eine stabile Bakteriengemeinschaft im Darm spielt für die Gesundheit des Menschen eine wichtige Rolle. Verglichen mit Neugeborenen vor 30 Jahren brauchen Babys heute wesentlich länger, eine entsprechende Darmflora zu entwickeln.

Von Christine Westerhaus |
    Ingegerd Adlerberth interessiert sich für das, was die meisten Menschen als übel riechenden Müll bezeichnen würden: stinkende Babywindeln. Am Institut für Infektionsbiologie der Göteborg Universität verteilt sie den Kot darin auf sogenannte Agarplatten. Diese Plastikschalen enthalten ein Nährmedium, auf dem Bakterien besonders gut gedeihen. Auf der Agarplatte, die die schwedische Forscherin nun hochhebt, haben sich schon ein paar pelzige Kolonien gebildet. Wie Sommersprossen wachsen die gelb-weißlichen Flecken auf dem gelartigen Nährmedium:
    "Das hier ist glaub ich E. coli. Für wichtige Bakteriengruppen haben wir spezielle Platten auf denen einzelne Mikrobenstämme besonders gut wachsen. Und dann bekommt man eine ganz gute Vorstellung, welche Bakterien in welchen Mengen im Darm wachsen. Wir haben eine Kohorte von Babys, die wir seit der Geburt verfolgen und regelmäßig Proben nehmen."
    Schon seit mehreren Jahrzehnten suchen die Forscher in dem Kot Neugeborener nach Bakterien. Dabei machten Ingegerd Adlerberth und ihre Kollegen eine interessante Entdeckung: Offenbar brauchen Babys in Industrienationen heutzutage länger, um eine gut funktionierende Darmflora zu etablieren.
    "Wir sehen, dass schwedische Kinder deutlich später von normalen Darmbakterien wie beispielsweise E. Coli oder Bacteroides besiedelt werden. Gleichzeitig beobachten wir, dass sich andere Bakterien, die nicht zur normalen Darmflora gehören, länger im Darm der Kinder halten können. Clostridium difficile beispielsweise - diesen Keim finden wir heutzutage bei bis zu 60 Prozent aller Einjährigen. Wir glauben, dass das daran liegt, dass die Darmflora dieser Kinder nicht stabil genug ist, dieses Bakterium zu verdrängen."
    In einer gesunden Darmflora ist kein Platz für Krankheitserreger wie Clostridium difficile. Zwar tragen Kinder diesen Keim oftmals in sich, ohne krank zu werden - übertragen können sie ihn aber trotzdem. Bei älteren Menschen kann dieses Bakterium heftige Durchfallerkrankungen hervorrufen, die nur schwer zu behandeln sind. Ingegerd Adlerberth und ihre Kollegen entdeckten aber noch einen weiteren interessanten Zusammenhang. Werden Babys schon früh in ihrem Leben von vielen verschiedenen Darmbakterien besiedelt, sind sie später im Leben besser vor Heuschnupfen und Asthma geschützt, sagt Adlerberth:
    "Wir und auch andere Forschergruppen haben beobachtet, dass Babys, die frühzeitig von vielen verschiedenen Darmbakterienarten besiedelt sind, mit etwa 18 Monaten ein geringeres Allergierisiko haben. Offenbar führt der Kontakt zu vielen unterschiedlichen Mikroben dazu, dass das Immunsystem lernt, angemessen auf Bakterien zu reagieren. Allergien beruhen ja auf einer Störung des Immunsystems - es reagiert auf Dinge, die wir eigentlich tolerieren sollten."
    Adlerberth und ihre Kollegen sahen außerdem, dass per Kaiserschnitt entbundene Kinder noch später von typischen Darmbakterien besiedelt werden, als Kinder, die auf natürlichem Weg zur Welt kommen. Im Geburtskanal werden Babys in den Vaginalschleim der Mütter gehüllt. Dieser enthält Milchsäurebakterien, die den Körper der Neugeborenen besiedeln. Per Kaiserschnitt entbundenen Babys fehlen diese Pionierkeime. Gleichzeitig gibt es Studien, die zeigen, dass per Kaiserschnitt entbundene Kinder ein erhöhtes Allergierisiko haben. Auch das deuten Forscher als Hinweis darauf, dass der frühe Kontakt zu vielen verschiedenen Bakterien wichtig ist, um das Immunsystem zu schulen.
    "Kaiserschnittbabys haben keine Chance, die Bakterien ihrer Mütter zu treffen. Wir leben sehr hygienisch und wir wohnen nicht auf engem Raum zusammen, deswegen haben wir seltener Gelegenheit, Bakterien mit anderen auszutauschen. Wir haben zum Beispiel auch gesehen, dass Babys seltener Allergien entwickeln, wenn ihre Eltern den Schnuller ablecken und nicht abkochen, um ihn zu säubern. Ich denke, in diese Richtung sollten wir denken: dass wir Wege finden sollten, wie wir das Immunsystem unserer Kinder stimulieren, damit es frühzeitig geschult wird."
    Adlerberth warnt jedoch vor übertriebenem Aktionismus. Eltern sollten nicht auf die Idee kommen, ihre Babys zusätzlich mit allen möglichen Keimen zu konfrontieren. Die meisten Bakterien in unserer Umgebung seien zwar harmlos. Doch ein gesundes Maß an Hygiene schützt auch vor gefährlichen Infektionskrankheiten.