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Manuskript: Schwarzer Tod und Weiße Pest

Um für historische Epidemien wie Pest oder Lepra nachträglich einen Erreger zu ermitteln, waren Mediziner und Historiker lange Zeit auf Schilderungen von Chronisten angewiesen. Doch seit einigen Jahren erfahren die Forscher Hilfe von bislang stummen Zeitzeugen: Skeletten.

Von Joachim Budde | 09.06.2014
    Bei Ausgrabungen in Ellwangen - hier die Magdalenenkapelle aus dem 12. Jahrhundert -  wurden Skelette geborgen, die Material für die Rekonstruktion einer damaligen Epidemie lieferten.
    Bei Ausgrabungen in Ellwangen - hier die Magdalenenkapelle aus dem 12. Jahrhundert - wurden Skelette geborgen, die Material für die Rekonstruktion einer damaligen Epidemie lieferten. (Regierungspräsidium Stuttgart)
    "Einst schlich Frau Pest sich nach Wien in die Stadt,
    Tausende fraß sie und fraß sich nicht satt."
    "Wir sind daran interessiert, diese Beulenpesterreger beziehungsweise deren Erbgut aus diesen Knochen hier zu entschlüsseln."
    "Bald gab's kein Haus, wo der Tod nicht erschien. Schrecken erstarrt lag das lachende Wien."
    "Was wir meistens dafür verwenden, sind Zähne, weil Zähne sind im Prinzip wie so eine Art kleine Zeitkapsel",
    "Einer nur war, der den Mut nicht verlor.
    Dudelsackpfeifend und keck wie zuvor."
    "Das wäre so ein Zahn hier, den muss man erstmal kleinkriegen, sag ich mal."
    "Blieb nur Freund Augustin, immer bereit,
    Lustig zu sein in der schrecklichen Zeit."
    !!Der Schwarze Tod und die Weiße Pest
    Eine Rekonstruktion im Gen-Labor
    Von Joachim Budde""
    Ellwangen auf der Schwäbischen Alb: Gegenüber der Kirche, vor den adrett gestrichenen Stiftsherrnhäusern aus dem Spätmittelalter, wühlt sich ein Bagger durch die Erde. Hier auf dem Platz stand einmal eine Kapelle zu Ehren der heiligen Magdalena mit einem Friedhof. Das Kirchlein und die Grabsteine mussten schon vor 1800 dem Marktplatz weichen. Jetzt, bei der Neugestaltung, kommen die Überreste wieder ans Licht. Rainer Weiß schaut zu, wie seine Kollegen eine sonnengebleichte Plane zurückschlagen. Ein Skelett blickt in den wolkenlosen Frühlingshimmel. Es trägt die Nummer 2315.
    "2315 ist eine junge Frau, etwa 21 Jahre alt, die im Wochenbett gestorben ist, und das Neugeborene liegt auf der rechten Brust der Mutter, und sie wurden beide als Erdbestattung auf dem Magdalenenfriedhof bestattet. Eine junge Frau aus der Stadt Ellwangen."
    Eine Hand der Mutter liegt auf dem winzigen Gerippe. Die zierlichen Knochen sind zu einer Fläche zusammengefallen. Die Mutter hat den Schädel ein wenig nach rechts gedreht. Die Kalotte ist frisch eingedrückt. Grell heben sich die Bruchkanten gegen die braune Oberfläche des Knochens ab.
    "Dem Baggergewicht hält es eben nicht stand."
    Pest und Tuberkulose: tödlicher als Kriege
    Dort, wo jetzt mitten auf dem frisch gepflasterten Platz schmächtige Bäumchen gepflanzt sind, haben die Archäologen im vergangenen Jahr ein Massengrab mit den Skeletten von 46 Menschen gefunden. Per Radiokarbonanalyse konnten sie es auf die Zeit des 30-jährigen Krieges datieren.
    "In dieser Grabanlage haben wir überwiegend junge Frauen und Kinder ange-troffen, die im Prinzip als Pest- oder Seuchen- oder auch Kriegstote ange-sprochen werden können. Ohne dass wir Schussverletzungen oder Stichverletzungen als Todesursache festgestellt haben. Also es müssen sehr viel wahrscheinlicher Pest- oder Seuchentote gewesen sein."
    Kriege haben im Laufe der Geschichte Millionen Menschenleben gefordert. Noch tödlicher waren jedoch Seuchen wie die Pest, die Tuberkulose, die Pocken.
    "Es ist natürlich immer schon eine Diskussion gewesen, welche Erreger genau schuld waren an diesen großen Pestepidemien."
    "Um etwas über die Evolution der Krankheitserreger zu lernen, kann ich na-türlich nicht auf Fossilien zurückgreifen. Weil normalerweise fossilisieren die Krankheitserreger nicht. Selbst wenn es ein im Prinzip fossilisiertes Bak-terium geben würde, dann wäre das nur eine runde Kugel."
    Seit wenigen Jahren können Spezialisten das Bakterien-DNA aus Skeletten ziehen, die hunderte, ja tausende von Jahren in der Erde lagen.
    Ein bei einer Ausgrabung freigelegtes menschliches Skelett aus dem 14. Jahrhundert.
    Ein menschliches Skelett (picture-alliance/dpa)
    "So bekomme ich molekulare Fossilien, das heißt, ich bekomme die gesamte Erbinformation dieser Bakterien, kann sie mit heutigen Bakterien vergleichen und kann schauen: Wie haben sie sich im Laufe der Jahrtausende verändert."
    Johannes Krause ist an der Universität Tübingen Professor für Archäo- und Paläogenetik. Er untersucht die DNA von historischen Krankheitserregern. Nicht nur von der Pest.
    "Das war das erste komplette Genom, was im Prinzip rekonstruiert wurde von einem alten Krankheitserreger, und wir haben seitdem begonnen, das mit vielen anderen Krankheitserregern durchzuführen, Lepra, Tuberkulose, Syphilis, Pockenviren."
    Alte DNA nennen Paläogenetiker das neue Forschungsfeld. Auch Albert Zink, der das Institut für Mumien und den Iceman an der Europäischen Akademie EURAC leitet, spürt alter DNA nach.
    "Die vielleicht falsche Vorstellung, die es gibt, dass Krankheiten erst wirklich vor kurzer Zeit sich entwickelt haben, dass viele Krankheiten als Zivilisationskrankheiten erscheinen, dass vielleicht in früheren Zeiten nur ganz wenige oder andere Krankheiten vorhanden waren, wenn man aber diese Skelette ansieht, merkt man, das stimmt gar nicht."
    "Einmal geschah's, und es war in der Nacht,
    Augustin gab auf dem Heimweg nicht acht,
    War ganz beseligt von Mondschein und Wein,
    Fiel in ein Pestloch – mitten hinein."
    Diese Geschichte beginnt am Übergang von der Antike zum Mittelalter, als in Rom Kaiser Justinian herrschte. In Aschheim, einem Weiler an der Kreuzung zweier Handelsstraßen südlich von München, lebten damals schätzungsweise zehn Familien.
    "Das ist die Dame A 120, eben wir nennen es matur, in eher fortge-schrittenem Alter, sie war bestattet mit zwei weiteren Individuen, und zwar mit einer anderen Frau, mit der sie Händchen gehalten hat, das ist ganz schön, sie halten sich an den Händen, und zwischen den beiden Frauen liegt noch ein Kind bestattet."
    Manuela Harbeck trägt blaue Gummihandschuhe, wäh-rend sie transparente Plastiktüten mit Knochenstü-cken aus einem großen grauen Pappkarton holt. Für 1500 Jahre haben diese Knochen in Aschheim in der Erde gelegen. Vor zehn Jahren wurden sie ausgegraben. Die Konservatorin der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie in Bayern kann einiges aus ihnen ablesen.
    "Wir sehen, dass sie jetzt an den Gelenken und so weiter jetzt keine Krank-heiten hatte, die das Skelett betreffen, die war relativ gesund, ist relativ ge-sund auch verstorben."
    Die Familien im antiken Aschheim haben in den meisten anderen Gräbern nur einen Leichnam beerdigt. Darum ist das Grab von Frau A 120 ungewöhnlich.
    "Was aufgefallen ist, dass in der Mitte des 6. Jahrhunderts Bestattungen mehr werden, wo mehrere Individuen in einer Grabgrube sind, zwei, mal drei, mal fünf Individuen, und da fragt man sich natürlich: Warum ist das so? Sind das vielleicht Familien? Seuchen ist natürlich etwas, das sofort einem ins Auge springt, und diese Seuchentheorie haben wir dann aufgegriffen schon vor einigen Jahren und gedacht, ja gut Justinianische Pest ist so ungefähr das Zeitalter, in dem wir uns da bewegen."
    Die Pest. Erreger: Das Bakterium Yersinia pestis. Flöhe übertragen es von Nagetier zu Nagetier und auf den Menschen. Früher weltweit verbreitet. Häufigste Form: Bubonische oder Beulenpest. Tritt auch als Lungenpest, Pestsepsis oder mit mildem Verlauf als abortive Pest auf. Inkubationszeit: zwei bis zehn Tage. Vorbeugung: Schutzimpfung; Chemoprophylaxe; Rattenbekämpfung.
    Die Justinianische Pest ist die erste von drei Pandemien, bei denen sich Medizinhistoriker schon lange einigermaßen einig waren, dass Yersinia pestis hinter den Ausbrüchen steckte. 200 Jahre lang, von 541 bis 750, wogte sie in immer neuen Wellen durch Europa.
    Die zweite Pandemie wütete vier Jahre lang mitten im 14. Jahrhundert. Sie raffte je nach Rechnung ein Drittel bis die Hälfte der europäischen Bevölkerung dahin und gab der Pest den Namen Schwarzer Tod. Auch zwischen den Pandemien kam es immer wieder zu Pestausbrüchen, jedoch blieben die lokal begrenzt.
    Die Justinianische Pest und der Schwarze Tod kamen beide aus dem Fernen Osten – genauso wie die neuzeitliche Pandemie um das Jahr 1890. Sie wütete vor allem in Indochina, brachte den Erreger nach Amerika und bot dem Mikrobiologen Alexandre Yersin vom Institut Pasteur in Paris die Möglichkeit, das Bakterium erstmals nachzuweisen.
    Solch ein Beweis fehlte für die älteren Epidemien - bis vor ein paar Monaten. Bis die internationale Gruppe um Manuela Harbeck die Aschheimer Skelette untersuchte, war nicht einmal bekannt gewesen, dass die Justinianische Pest überhaupt Südbayern erreicht hatte.
    "Das nächste ist natürlich, dass wir durch unsere phylogenetische Einordnung zeigen konnten, dass es ein Erreger ist, den es heute so nicht mehr gibt."
    Mittelalterlicher Erreger als Vorfahr späterer Peststämme
    Schon einige Wochen zuvor hatten Johannes Krause und seine Mitarbeiter zwei komplette Pest-Genome aus der Zeit des Schwarzen Todes im 14. Jahrhundert rekonstruiert. Die Übereinstimmung mit dem Stamm aus Justinianischer Zeit war gering. Ein Abgleich mit den 150 bekannten modernen Stämmen hingegen ergab verblüffende Ähnlichkeiten.
    "Wir konnten zeigen, dass der Pesterreger aus dem Mittelalter, aus der Zeit des Schwarzen Todes, der gemeinsame Vorfahr der meisten heutigen Pest-erreger ist. Und wenn man es so will, ist dieser Peststamm die Mutter der heutigen Pest, und was wir heute haben, sind die vielen Töchterstämme, die man weltweit findet."
    "Es gibt kein Gen oder keinen Abschnitt, der spezifisch ist für die mittelalterliche Pest und sich von den heutigen vielen, vielen Töchterstämmen unterscheidet. Es scheint andere Gründe dafür zu geben, warum die Pest im Mittelalter so viele Menschen getötet hat, und zum Beispiel im 17. und 18. Jahrhundert weniger Menschen der Pest zum Opfer gefallen sind."
    "Aber er sagte: "Was schert mich die Pest?"
    Schlief dann so fest, wie die Ratten im Nest."
    Ein Tunnelzelt schützt die Ausgräber und ihre Funde in Ellwangen vor der Witterung. Sebastian Wolf legt mit kleinen Kellen und runden Bürsten ein weiteres Skelett frei.
    "Das ist ein sehr maskulin anmutender Schädel, es gibt einen Wulst über den Augen, der sehr kräftig ausgeprägt ist bei Männern, in diesem Fall extrem kräftig, ein sehr kräftiger Unterkiefer, starke Muskelansatzstellen, was für Männlichkeit spricht, ansonsten ist das Becken noch besser geeignet, das ist beim Mann eher schmal."
    Neben dem Schädel ragt ein Oberschenkelknochen aus der Wand des Grabens. Wo immer die Archäologen Gerippe freilegen – von allen Seiten reichen Fragmente anderer Skelette – Schädelfragmente, abgebrochene Langknochen – in die Gräber. Von der Klostergründung im Jahr 764 an sind hier knapp 1000 Jahre lang Menschen bestattet worden, dabei kamen sich neue und alte Gräber in die Quere.
    "Wir finden immer wieder Krankheitsbilder, vom Brustkrebs, der metastasie-rend am Schädel erkennbar ist, über Tuberkulose, Osteomyelitis, das sind entzündliche Knochenkrankheiten, bis hin zu Frakturen, Brüchen aller Art."
    Die Ausgräber in Ellwangen bergen die Skelette, notieren all ihre Beobachtungen und schicken sie nach Tübingen in Johannes Krauses Labor.
    "Wir haben dann auch die Möglichkeit nach verschiedenen anderen Erregern zu screenen. Das heißt, mehrere Hundert Krankheitserreger gleichzeitig aus dieser komplexen Mixtur von DNA herauszufischen, das heißt, wir haben durchaus die Möglichkeit, auch andere Krankheitserreger anzuschauen und nicht nur den Pesterreger."
    Puppenfüße stellen an Pest gestorbene Menschen dar.
    Puppenfüße stellen an Pest gestorbene Menschen dar. (dpa picture alliance / Jens Wolf)
    Meist finden sie Gene von Bakterien. Denn die Gene der meisten Viren bestehen im Gegensatz zu denen der Bakterien aus RNA, und die zerfällt viel schneller.
    "Bei Viren ist es so, es gibt momentan nur sehr wenig Analysen von alten Viren."
    Nur unter wirklich außergewöhnlichen Bedingungen haben Wissenschaftler die Erbinformationen von alten RNA-Viren rekonstruieren können. Das älteste vollständige Viren-Genom stammt von Hepatitis-B-Viren. Ein weiteres vom berüchtigtsten Grippe-Virus des 20. Jahrhunderts.
    "Das war die Untersuchung des Spanischen-Grippe-Erregers aus den 20er-Jahren, wo man in Alaska im Prinzip Permafrostproben gefunden hat, das heißt, Personen, die damals beerdigt wurden. Und aus Lungengewebe konnte man diese Erreger dort isolieren und wieder rekonstruieren, mit heutigen Grippe-Erregern vergleichen und hat dann im Prinzip auch viel über die Evolution der Grippe innerhalb des 20. Jahrhunderts erfahren."
    Maria Spyrou reißt die Plastikfolie um den weißen Laboroverall auf. Die junge Griechin trägt bereits ein Haarnetz, jetzt steigt sie vorsichtig in den Overall –mit jeder Hautschuppe, die daran klebt, trägt sie DNA in das Labor, die die empfindlichen Experimente verunreinigen könnte.
    Die Doktorandin zieht sich um für die Arbeit im Labor für alte DNA, im Allerheiligsten von Johannes Krauses Arbeitsgruppe an der Universität Tübingen. Noch den Mundschutz. Und zwei Paar Gummihandschuhe. Wenn das äußere schmutzig wird, kann sie es im Labor austauschen, ohne ihre Hände zu entblößen.
    "Wir haben schon mit der Arbeit an den Skeletten aus Ellwangen be-gonnen."
    Hier stehen ein Computer, ein Dekontaminiergerät, Tiefkühlschränke mit Proben. Die junge Griechin trägt ein Tütchen mit Zähnen aus einer der großen Schubladen zu dem Plexiglaskasten, in dem eine Schraubzwinge, eine Hand-Stichsäge und ein feiner Bohrer warten.
    "Ich säge die Zahnwurzel ab, das sieht dann so aus. Dann bohre ich die Pulpa heraus, und erhalte dieses Knochenpulver. Aus etwa 50 Milli-gramm davon extrahieren wir die DNA."
    Dazu löst Maria Spyrou nebenan die DNA mithilfe einer Pufferflüssigkeit aus dem Zahnpulver heraus. Aus jedem Zahn gewinnt sie drei Tropfen DNA-Suppe. 100 Mikroliter.
    "Man arbeitet vielleicht eine Woche an einer Probe, um dann erst zu wissen: Habe ich überhaupt etwas oder vielleicht habe ich gar nichts. "
    "Wir haben das DNA-Extrakt, wo alles mögliche an DNA drin ist, humane DNA, aber auch von Bakterien, die vorher den Knochen besiedelt haben, die nichts mit der Pest zu tun haben."
    "Und nur ganz wenig der DNA, vielleicht nur 0,01 Prozent der DNA aus im Prinzip selbst aus dem Skelett stammt dann vielleicht vom Krankheits-erreger, der diesen Mensch einst umgebracht hat. Das heißt, das stellt für uns auch die große Herausforderung dar, diese wenigen Fragmente aus dieser komplexen Mixtur von DNA herauszufischen."
    DNA besteht aus Basenpaaren, die zu langen Ketten, den Chromosomen, zusammengesetzt sind – wie ein Reißverschluss mit vier Sorten Zähnen: den Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Am liebsten verzahnen sich Adenin und Thymin miteinander sowie Cytosin und Guanin. Die Wissenschaftler trennen die beiden Hälften der Reißverschlüsse voneinander. Sie kleben sie als Köder auf eine kleine Glasscheibe und tauchen sie ins DNA-Extrakt. Befinden sich dort passende Stücke alter Pest-DNA, heften die sich an den Köder.
    Auch Lepra wurde untersucht
    "Das ist wirklich, wie wenn man sich Angeln nach Fischen vorstellt, man hat einen Köder, und mit diesem Köder fängt man die DNA ein."
    "Das ist natürlich wirklich ein bisschen wie ein Fischen im Trüben."
    "Danach können wir diese DNA-Sequenzen nehmen, und können sie zusam-men rekonstruieren in eine große Sequenz. Das heißt, wir können sie wieder zusammenpuzzeln und können so ein altes Genom rekonstruieren."
    Der Pest-Erreger aus der Zeit des Schwarzen Todes war nur der erste Schritt. Die nächste Krankheit, die sich Krause und seine Mitarbeiter vornahmen, war die Lepra.
    Lepra. Erreger: Mycobacterium leprae. Übertragung von Mensch zu Mensch, jedoch nur bei lang andauerndem Kontakt mit einem Infizierten. Früher weltweit verbreitet. Häufigste Formen: die eher gutartige tuberkuloide Lepra; die lepromatöse Lepra befällt den gesamten Körper, später auch die inneren Organe und die Knochen. Inkubationszeit: mehrere Monate bis mehrere Jahrzehnte. Vorbeugung: Frühentdeckung und Frühbehandlung.
    Johannes Krause und sein Team waren in der Lage, das komplette Lepra-Genom aus fünf Leichen aus dem Mittelalter zu rekonstruieren. Das Überraschende dabei: Bei einer 700 Jahre alten Frauenleiche brauchten die Forscher die DNA gar nicht erst anzu-reichern.
    "Das Mycobakterium leprae, das hat eine sehr dicke Zellwand, die ist so dick wie bei keinem anderen Bakterium, das heißt, das macht diese Zelle sehr, sehr stabil, die ist hydrophob, das heißt, sie lässt kein Wasser durch, sodass sie auch wieder eine kleine Zeitkapsel bildet, und die DNA nicht so schnell zerfällt, wie zum Beispiel die DNA von dem Menschen selbst und von anderen Bakterien, das heißt in einigen Skeletten stammt 50 Prozent der DNA, die wir aus dem Skelett herausbekommen haben, von Lepra-Erregern. Und nur ein Prozent vom Menschen."
    Das Bakterium teilt sich nur alle zwei Wochen.
    "Dort konnten wir zeigen, dass für den Lepra-Erreger sich dieser in den letzten 1000 Jahren eigentlich auch nicht verändert hat. Wir haben nur wenige Unterschiede gefunden, von dem Lepra-Erreger, den wir aus dem Mittelalter rekonstruiert haben im Vergleich zu den heutigen Lepra-Erregern, das heißt, er ist auch sehr, sehr stabil geblieben. Im Laufe der Zeit."
    Das heißt aber auch, dass die Virulenz dieses Erregers in all den Jahrhunderten gleich geblieben sein müsste. Doch aus Europa zumindest ist sie heute so gut wie verschwunden, sagt Albert Zink vom Mumien-Institut in Bozen.
    "Die Lepra war ja eine sehr, sehr verbreitete Infektionskrankheit bis so etwa ins 15. Jahrhundert hinein, und plötzlich ganz, ganz stark wurde sie zurückgedrängt, und hier gibt es natürlich verschiedene Theorien, unter anderem auch, dass sich das stärkere Aufkommen der Tuberkulose, also ein verwandter Erreger, den Lepra-Erreger immer weiter zurückgedrängt hat."
    Tuberkulose. Abkürzung: Tb. Erreger: Mycobacterium tuberculosis. Chronisch verlaufende Tröpfcheninfektion. Selten Ansteckung über Milch oder Haustiere. Häufigste Form: Lungen-Tb, seltener auch in anderen Organen. Befällt als Spätform Knochen und Gelenke. Inkubationszeit: vier bis sechs Wochen. Vorbeugung: Kontakt zu Kranken und Infektionsquellen vermeiden; Chemoprophylaxe.
    Tb ist heute die zweittödlichste Krankheit nach Aids. Im Jahr 2012 erlagen ihr 1,3 Millionen Menschen auf der ganzen Welt.
    "Die Tuberkulose ist sicherlich für uns im Moment der interessanteste Krankheitserreger, weil sie die größte medizinische Relevanz hat."
    Sie hat viele Namen. "Tuberkulose" weist auf die kugeligen Knötchen hin, in denen der Körper die Erreger einschließt. Weil Tb-Kranke langsam zu vergehen scheinen, nannte man die Krankheit auch "Schwindsucht". Die Patienten waren extrem blass, deswegen auch "Weiße Pest", sagt Albert Zink.
    "Der Begriff kommt ja eher aus der jüngeren Geschichte, wo man das dann auch realisiert hat, dass das eine Krankheit ist, die sich sehr schnell verbreitet, die wirklich die gesamte Bevölkerung trifft, die jetzt auch keine Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten auslässt, und wir wissen jetzt aber auch, dass das nicht nur für die jüngere Geschichte war, sondern schon sehr viel länger zurückgeht und sogar bis in diese Ursprünge der Besiedlung Europas."
    Als Barbara Hausmann am 2. März 1795 mit 14 Jahren starb, zog man ihr ein schlichtes weißes Totenkleid an, legte ihr einen mit Spitze durchwirkten Schal über die Schultern und bettete sie in einer Gruft der Dominikanerkirche in Vác, einer kleinen Stadt an der Donau nördlich von Budapest. Vor ein paar Jahren fand man die vergessene Gruft bei der Restaurierung der Kirche wieder, sagt Helen Donoghue, die am University College London forscht.
    "Als man die Krypta öffnete, war sie bis zur Decke voll mit Särgen, ei-nige wunderschön dekoriert, viele mit Namen und Todesdatum versehen. Es zeigte sich, dass das Klima in der Gruft viele Leichen mumifiziert hatte, ohne weiteres Zutun."
    Das Totenkleid ist in den 200 Jahren vergilbt. Die Haut umspannt die dürren Knochen wie braunes Pergament. Barbara Hausmanns Arme halten immer noch vier weiße Stoffblumen umschlungen. Auch ihre Schwester Terézia und ihre Mutter sind hier bestattet. Die drei Frauen erlagen binnen 30 Monaten alle der Tuberkulose. Bei mehr als 60 Prozent der mumifizierten Leichen fand Helen Donoghue Anzeichen der Krankheit.
    Menschliche Migration anhand von Bakterien nachzeichnen
    Bei Terézia hatte die Forscherin ähnliches Glück wie Johannes Krause bei der Lepra: Weil die Mumie so gut erhalten war, konnte Donoghue die DNA zusammenpuzzeln, ohne sie vorher anzureichern. Sie rekonstruierte zwei vollständige Tuberkulose-Genome.
    "Die Mutter war an einem anderen Tb-Stamm erkrankt als ihre Töch-ter. Terézia war mit gleich zwei unterschiedlichen Stämmen infiziert. Es sieht so aus, als seien diese beiden Stämme aus dem Ungarn des 18. Jahrhunderts direkte Vorfahren von Tuberkulosetypen, die wir heute in Deutschland finden."
    "Wir können menschliche Migration nachzeichnen anhand der Bakterien, die diese Menschen infiziert haben. Zum Beispiel: Die älteste menschliche Tb kennen wir aus einem 9000 Jahre alten Knochen aus dem östlichen Mittelmeer. Da waren die Menschen gerade erst sesshaft geworden. Eine alte Theorie besagt, dass der Mensch die Tuberkulose von seinem Vieh bekommen hat. Das kann aber nicht stimmen, denn schon diesem Tb-Stamm aus der Zeit, als die Menschen gerade began-nen, Tiere zu domestizieren, fehlte ein Gen-Abschnitt. Diese Lücke ist ein Merkmal für den wichtigsten menschlichen Tb-Stamm aus Europa und heutzutage Amerika."
    Zusätzlich zu den Genomen der Hausmann-Frauen hat Helen Donoghue gerade erst weitere 23 komplette Tb-Genome aus den ungarischen Mumien sequenziert.
    "Wir fanden mehrere Linien, darunter eine, die heutzutage mit Latein-amerika in Verbindung gebracht wird. Aber wir können sie in einem Menschen aus Zentraleuropa im 18. Jahrhundert nachweisen."
    Helen Donoghue vermutet, dass sich Tb in grauer Vorzeit nach einem evolutionären Flaschenhals an das Leben im Menschen anpasste. Zwar hat der Erreger zahlreiche Verwandte, die sich auf verschiedene Tierarten spezialisiert haben. Für das Mycobacterium tuberculosis aber ist ein Tierreservoir nicht bekannt."
    "Donoghues Genome sind evolutionäre Momentaufnah-men, anhand derer man das Tempo der Veränderungen in den Erbanlagen berechnen kann. Seit Entdeckung der Antibiotika haben einige Tb-Stämme Resistenzen gegen diese Wirkstoffe entwickelt. Um das zu verstehen, sind Forscher darauf erpicht, die genetische Ausstattung von Tb-Stämmen zu untersuchen, die älter sind als die Antibiotika."
    Tuberkulose, Pest, Lepra – sie sind aus Mitteleuropa verschwunden oder zu einer Krankheit von Randgruppen geworden. Hinter dieser Entwicklung steckt einerseits, dass die Menschen der Moderne um Ansteckung, Bakterien und damit die Bedeutung von Hygiene wissen.
    "Eine andere Möglichkeit ist, dass sich der Mensch selbst angepasst hat. Es kann auch sein, dass es eine sogenannte Syndemie war aus unterschiedlichen Erregern."
    Schon lange vermuten Wissenschaftler, dass hinter den großen Pandemien mehr als ein Erreger steckt. Helen Donoghue etwa hat in Leichnamen aus vielen Ländern Europas Ko-Infektionen von Lepra und Tuberkulose gefunden – und Hinweise darauf in Sterberegistern, etwa aus der Londoner Pestepidemie 1665.
    "In einer Woche ohne Pest starben vier oder fünf Leute an Tb. In einer Pestwoche waren es Hunderte. Es gab tausende Pestopfer, aber mehr als 100 Opfer von Tb in derselben Woche."
    Man müsse sich ansehen, in welchem Verhältnis die Infektionen miteinander stehen. Zudem brachte eine Seuche stets erhebliche gesellschaftliche Verwerfungen mit sich.
    "Die Menschen standen unter Stress: Sie hatten ihr Obdach und ihre Heimat verloren, ihre Arbeit. Wenn sie Lepra hatten, war ihre Abwehr geschwächt. Kamen sie also in eine Stadt, steckten sie sich mit Tb an und starben daran. Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen Tb und Lepra, und vielleicht auch mit der Pest."
    In Ellwangen gehen die Grabungen weiter. An der Ostseite des Marktes wartet noch der Mönchsfriedhof. Und die Urkunden sprechen von einem Siechenfriedhof, der hier irgendwo sein muss. Vielleicht finden die Archäologen auch den noch.
    "War einst ein Spielmann im lustigen Wien,
    Augustin hieß er, und wo er erschien
    Lachten die Leute und freuten sich sehr.
    War doch kein andrer so lustig wie er.
    Saß er im Wirtshaus beim funkelnden Wein,
    Trank er so lang, bis kein Heller mehr sein.
    Siehe, dann sang er mit fröhlichem Sinn:
    O du lieber Augustin, alles ist hin!"
    "Es ist natürlich jetzt nicht so, dass wir konkret sagen können: Wenn wir ein 5000 Jahre altes Tuberkulose-Bakterium isoliert haben, können wir dadurch jetzt sozusagen die Menschheit von dieser Krankheit befreien. Aber es ist sozusagen ein Mosaikstein, um dann zu diesem Ziel zu kommen, dass man diese Krankheit wirklich komplett eindämmen kann."
    "Wenn man Geschichte verstehen will, muss man sicherlich auch die Krank-heiten verstehen, die in Prinzip solch einen starken Effekt auf die menschliche Geschichte und auch auf die menschliche Evolution in den letzten paar Jahrtausenden hatten."
    Rezitator Ballade vom lieben Augustin:
    "Kommt doch für jeden die Zeit auf der Welt,
    Dass ihm sein Glück auf ein Häuflein zerfällt.
    Wohl ihm, vermag er mit Trostes Gewinn
    Fröhlich zu singen dann: alles ist hin!"
    !!Der Schwarze Tod und die Weiße Pest –
    Eine Rekonstruktion im Gen-Labor
    Von Joachim Budde.
    Es sprachen:
    Ton und Technik:
    Produktion: Friederike Wigger
    Redaktion: Christiane Knoll.!!