Wir Menschen verstehen kaum das eigene Wort, wenn wir das Knattern einer Kettensäge hören. Doch wenn es um uns herum sehr leise ist, nehmen wir selbst das Tropfen eines Wasserhahns als lautes Geräusch war. Dahinter steckt eine ganz besondere Fähigkeit unseres Gehörs, erklärt Anthony Ricci, Hörforscher an der Stanford University in Kalifornien.
"Wir können ein ungeheuer großes Lautstärkespektrum wahrnehmen. Wir hören das Fallen einer Stecknadel, und wir hören ein Düsentriebwerk. Das sind 120 Dezibel Schalldruckdifferenz. Um das zu meistern, besitzt unser Gehör einen Mechanismus, der es auf die benötigte Empfindlichkeit einstellt. Es ist die so genannte Adaption."
Wenn man sich ein Ohr als Mikrofon vorstellt, spielt die Adaption die Rolle eines Mikrofonvorverstärkers. Bis vor Kurzem glaubten Gehörforscher zu wissen, wie der Körper es anstellt, gewissermaßen am Lautstärkeregler zu drehen: Die Hörzellen im Ohr besitzen feine Sinneshärchen, die über faserige Proteine, sogenannte Myosine, miteinander verbunden und vorgespannt sind. Je stärker die Haare durch die Schallwellen ausgelenkt werden, desto weiter öffnet der Zug der Myosine in der Membran der Hörzellen kleine Kanäle, durch die Kalzium-Ionen in das Innere der Zellen eindringen. Steigt die Kalzium-Konzentration, sinkt allerdings die Vorspannung des Myosins. Die Zellen reagieren dann unempfindlicher auf Schall.
Soweit die gängige Theorie. Anthony Ricci machte jedoch kürzlich Versuche mit Hörzellen von Ratten, bei denen er auf unterschiedlichste Weisen versuchte, die Wirkung des Kalziums zu unterbinden. Die Ergebnisse waren völlig überraschend.
"Man kann verändern, wie das Kalzium in die Zellen gelangt, oder es sogar ganz daran hindern, hineinzukommen. Wenn Kalzium in die Zellen eindringt, kann man es sehr schnell binden, sodass es nicht weiter wirken kann. Doch bei allem, was wir in den Experimenten auch taten, blieb die Adaption der getesteten Hörzellen erhalten. Offenbar spielt in unserem Gehör die motorische Komponente aus Myosin und Kalzium für die Adaption keine Rolle."
Ursprünglich aufgekommen war die Adaptionstheorie mit Kalzium und Myosin, als Forscher vor rund 30 Jahren genau die beschriebene Wirkungsweise bei Fröschen und Schildkröten nachweisen konnten. Deren Gehör ist einfacher aufgebaut als das von Säugetieren. Die Forscher gingen aber davon aus, dass die Adaption bei Säugetieren nach dem gleichen Muster funktioniert. Anthony Riccis Versuchsergebnisse an Rattenzellen stellen das jetzt infrage.
"Alles, was bei Schildkröten funktionierte, klappt bei Säugetieren nicht. Das hat uns vor den Kopf gestossen. Entweder sind unsere Daten komplett falsch, oder die Adaption beruht bei Säugetieren auf ganz anderen Mechanismen als bei Schildkröten und Fröschen. Diese Erkenntnis ist spannend, aber auch frustrierend. Denn es ist im Grunde ein so einfaches Experiment, dass man denkt: Das müsste doch schon früher jemand gemacht haben. Es ist immer frustrierend, wenn man glaubt, man komme voran, tatsächlich geht es aber zwei Schritte zurück."
Zurückgeworfen ist die Forschung nun vor allem auf dem Weg, Medikamente gegen Hörprobleme zu entwickeln, die auf einer Störung der Adaptionsfähigkeit der Hörzellen beruhen. Daran arbeitet auch Anthony Ricci in seinem Labor.
"Wenn der Adaptionsprozess nicht mehr funktioniert, wird man taub. Wenn wir herausfinden, auf welchen Molekülen oder Kräften die Adaption beruht, dann könnten wir Therapien mit Pharmaka entwickeln, die vor Taubheit schützen. Bisher zielten unsere medikamentösen Ansätze auf Myosin und Kalzium. Aber das ist wohl falsch. Es wäre nicht unbedingt erfolgreich."
Hörforscher weltweit werden jetzt erst einmal neue Grundlagenforschung betreiben müssen. Es gilt herauszufinden, wie die Adaption des komplexen Gehörs bei Säugetieren wie dem Menschen tatsächlich funktioniert. Erst wenn das bekannt ist, dürften wieder echte Fortschritte auf dem Weg zu einer Therapie gegen Taubheit möglich sein.