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Meerschaum, Gischt und Donnerknall

Lektüre für den Strand: Da bieten sich Geschichten von Seeräubern, Nixen und Meeresabenteuern aller Art an. Im besten Fall sind sie für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen geeignet.

Von Florian Felix Weyh |
    "An einem schönen Sommerabend ging ein sehr großer Mann am Kai von Grimli-am-Meer spazieren. Er war nicht nur groß, er war sehr groß. Er war so groß, dass er der Präsident des Clubs großer Menschen hätte sein können. Aber er war von gar nichts Präsident. Er war Rentner und wollte bis ans Ende des Kais gehen, sich auf das rote Ölfass setzen und die letzte Zigarre für heute rauchen. Er kam nie an." [Gillian Johnson: "Thora Meermädchen"]

    So müssen Bücher beginnen, bei denen man es kaum erwarten kann, die Seiten umzublättern. Denn warum kam jener Mann mit Namen Mr. Walters nie am Ende des Kais an? Lief er etwa finsteren Gesellen in die Arme, deren Kehlen schaurige, fußnägelaufrollende Gesänge entfahren, wenn sie ihre Entermesser zücken, um sich einen neuen Schiffsarzt, Smutje oder Segeltuchmacher zu besorgen?

    Nein, Mr. Walters hat Glück. Er begegnet keinem Piratenkapitän auf Landgang, der ihn zum Schurkendienst unter schwarzer Flagge pressen will. Stattdessen findet er in einem verlassenen Boot ein kleines Baby, das ziemlich schuppige Haut aufweist. Und weil das Baby jämmerlich weint, nimmt er sich seiner an, was Mr. Walters Schritte weg vom Wasser, hin zum Land lenkt, denn Babies gehören nicht ins Meer. Es sei denn, sie stammen daher, weil sie in der Evolution einen wichtigen Schritt ausgelassen haben: den der Umbildung des Fischschwanzes in menschliche Beine.

    "Süßherzchen lachte. 'Ich weiß, dass ihr Menschen denkt, dass wir einen Fischschwanz haben und Flossen. Doch das haben wir nicht. Wir haben nur alle unseren Strumpfrock an.'" [Hilke Rosenboom: "Melissa und die Meerjungfrau"]

    Mr. Walters möge es verzeihen, doch befinden wir uns schon in einem anderen Buch. Das muss sein, um den Gegenstand von allen Seiten zu beleuchten. Zum Findling an der Mole von Grimli-am-Meer kehren wir gleich wieder zurück. Jetzt soll sich erstmal Süßherzchen vorstellen:

    "Sie hatte lange silberne Haare, in denen lauter winzige Muschelschalen steckten, wie Kämmchen. Und sie trug ein Bikinioberteil, das in allen Regenbogenfarben schimmerte. Der Fischschwanz aber war grau mit grün-graugold glänzenden Tupfen. Jetzt stemmte sich die Nixe mit beiden Händen auf den Plastikfelsen in der Mitte des Aquariums und schwang sich auf seine Spitze. Sie öffnete ihren kleinen Mund und sagte mit einem Hauch von Vorwurf in der Stimme: 'Mir ist beim Klettern ein Fingernagel abgebrochen! Schließlich ist man wohl keine Bergziege, oder?' Melissa starrte das kleine Wesen an. 'Ich bin deine Rettung', sprudelte die Nixe hervor. 'Ich heiße Süßherzchen und ich bin etwas Besonderes. Ich bin nämlich in einer Süßwasserpfütze geboren.'" [Hilke Rosenboom: "Melissa und die Meerjungfrau"]

    Eine Nixe. Auch genannt: Meerjungfrau. Heutzutage so rar, dass man sie nicht mal mehr in gängigen Lexika findet. Doch zumindest vor 108 Jahren wurde von Nixen und Wassermännern noch im "Brockhaus" berichtet, und wenn es so im berühmtesten Nachschlagewerk stand, trägt es den Siegel der Flunkerfreiheit. Auch wenn der schlechte Ruf des Wassermanns etwas überzogen scheint. Eigentlich sind die Wassermänner ganz verträgliche Gesellen.

    "Salty Dog hatte die Spülmaschine entdeckt und ließ immer und immer wieder den laut brodelnden Topfspülgang mit einer einzigen Kaffeetasse durchlaufen. Den Lesesessel aus dem Wohnzimmer hatte er in die Küche geschoben. Hin und wieder sprang er auf die Füße, riss die Spülmaschine auf und schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. Qualle und Forelle öffneten eine Dose Thunfisch mit den Zähnen, um sich aus dem Inhalt eine Haarkur zu machen. Währenddessen surfte Rob auf seiner Muschelschale die Sofalehnen hinunter. Im Fernsehen hatte er einen Kanal eingeschaltet, auf dem ein Mann eine Angel in einen Fluss hielt. Sonst geschah nichts. Melissa saß einfach nur da, beobachtete die Nixen und dachte angestrengt nach. Sie strengte ihr Gehirn so stark an, dass es in ihren Schläfen kribbelte. Wie spät war es? Viertel vor fünf. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde ihre Mutter nach Hause kommen. Und obwohl Melissas Mutter ausgesprochen unberechenbar war, stand eines doch fest: Wenn sie die Wassermanns sah und das, was sie aus der Wohnung gemacht hatten, würde sie hochgehen wie ein Vulkan." [Hilke Rosenboom: "Melissa und die Meerjungfrau"]

    Keine Frage, es gibt sie, Nixen und Wassermänner, halb Fisch, halb Mensch, ganz Provokation für Landratten aller Art. Zumindest in Büchern dieses Sommers, wie etwa in Hilke Rosenbooms "Melissa und die Meerjungfrau". In der ziemlich chaotischen Lebenssituation nach Trennung ihrer Eltern kommt Melissa die Begegnung mit Süßherzchen und ihrer ungestümen Familie gerade recht. Ihr Vater ist neu liiert, die Stiefschwestern scheinen Zicken zu sein, und ihre Mutter schlafwandelt durch ein frisches Liebesabenteuer. Deswegen bemerkt sie die neuen Freunde Melissas auch nicht, obwohl diese die Wohnung verwüsten und tropfnasse Spuren hinterlassen. Zum Glück handelt es sich um reichlich degenerierte Wasserwesen, die das Meer gar nicht mehr kennen, weil sie in Aquarien leben und erst dann von Handpuppengröße auf ihr altes Maß anwachsen, wenn sie mit Salzwasser in Berührung kommen. Deswegen lassen sie sich bequem in einer Badetasche verstauen, und Melissa kann ihnen schlussendlich den Herzenswunsch erfüllen, ins Meer eintauchen zu dürfen. Mit erfrischendem Witz bereitet Hilke Rosenboom den Mythos neu auf und passt ihn modernen Verhältnisse an.

    Auch die australische Autorin Gillian Johnson, Schöpferin von Mr. Walters, zu dem wir nun zurückkehren, schlägt in "Thora Meermädchen" den Weg zwischen Ironie und Abenteuer ein. Allerdings ist ihre Protagonistin Thora keine reine Nixe, sondern ein Zwitterwesen, denn ihre Mutter Halla – wir Deutschen denken dabei eher an ein berühmtes Pferd – ließ sich mit einem Menschenkerl ein. Zehn Jahre, lautet der darauf folgende Fluch, müssen Mutter und Tochter nun "zwischen den Welten leben", damit Thora nicht wie ihr Vater spurlos verschwindet. Zum Glück wird sie von Mr. Walters gefunden, der als pensionierter Sportreporter Abhilfe weiß. Halla solle als professionelle Wettkampfschwimmerin ihr Auskommen suchen, rät er, und er würde mit Mutter und Tochter zusammen auf einem Boot leben. Gesagt, getan. Nach zehn Jahren ist der Fluch gebannt, doch birgt der beschauliche Ort Grimli-am-Meer, in den das Trio zurückkehrt, mannigfaltige Gefahren. Der Immobilienspekulant Frutti di Mare hat es auf den Liegeplatz von Mr. Walters Schiff abgesehen; zugleich stellt er der Nixe Halla als Attraktion für sein Vergnügungscenter nach.

    Als Mr. Walters auch noch nach Argentinien abreist, um seinen verstorbenen Bruder zu beerdigen, eskaliert die Situation, die ganze wohlmeinende Eltern- und Lehrerschaft des Ortes stürzt sich auf die Zehnjährige, und Thora hat alle Möglichkeiten, sich als würdiger Nachfahre von Pippi Langstrumpf zu etablieren; autonom und selbstbewusst geht sie ihrer Wege. Gillian Johnson, die ihr Buch selbst illustriert und typografisch verziert hat, schreibt skurriler und formal mutiger als Hilke Rosenboom. Manches Kapitel von "Thora Meermädchen" umfasst nur wenige Zeilen, schnelle Orts- und Perspektivwechsel sind damit vorprogrammiert und vermögen - trotz eindeutigen Titels - auch männliche Leser zu verlocken, während Hilke Rosenbooms "Melissa und die Meerjungfrau" ein bisschen mehr auf Mädchen zugeschrieben ist.

    Eindeutig auf ein weibliches Publikum zielt Sabine Wismans ebenfalls in der Gegenwart angesiedelte Fabel "Ich bin ein Meermädchen". Die siebenjährige Mare – nomen est omen – entdeckt beim Baden ihren sich entwickelnden Fischschwanz, traut sich aber nicht, darüber zu reden. Erst nach zahllosen Beinahe-Enthüllungen muss sie Farbe bekennen und erlebt das beglückende Gefühl der Geschlechteridentität mit ihrer Mutter, die sich ebenfalls als Meerjungfrau erweist. In romantisch inspiriertem Stil geschrieben, herrscht in diesem Buch der niederländischen Autorin Behutsamkeit bei der metaphorischen Entdeckung des weiblichen Ichs vor, wo die beiden anderen Autorinnen auf Spannung und Witz setzen. Ausdeuten lässt sich der Nixen-Mythos eben auf viele Weisen – so wie man auch über Piraten ganz unterschiedlicher Meinung sein kann. Kommen wir von den schmiegsamen Unterwasserwesen zu den harten Kerlen über der Wasserlinie.

    Buckelbert Hansen, genannt der blutige Buckelbert, ist keiner, dem man unbedingt auf den sieben Weltmeeren begegnen möchte. Unter seinen Mannen befindet sich ein Schiffsjunge namens Klaus Störtebeker, doch auch der Freibeuterkapitän hat früh angefangen mit der Karriere als Schrecken der christlichen Seefahrt

    Ja, so ist das Leben unter der Totenkopfflagge: Jagen und Verfolgt Werden, Kaperei und Untergang. Die Fahrt geht gegen eine Riesenkrake, gegen die englische Flotte, gegen ein überaus gebildetes, weil Latein sprechendes Krokodil - und nicht zuletzt auch manchmal gegen die eigenen Kollegen, so sie einem im Wege stehen. Da wären etwa Albert, der Alberne, und Robert, der Rostige. Albert hat die Angewohnheit, seine Feinde mit schlechten Witzen zu traktieren, und er tut das-– zumindest in der Hörfassung des Piratenromans "Der Schrecken der Ozeane" - ausgerechnet auf Kölsch. Ein Dialekt, der zum Meer gehört wie der berühmte Fisch aufs Fahrrad. Doch fluchen lässt sich trefflich in dieser Manier, und wenn man auf einer einsamen Insel strandet - Piratenschicksal! -, dann bringt man aus Verzweiflung selbst einem Papageien Kölsch bei.

    Aufmerksame Menschen mögen den Sprecher erkennen, obwohl er sich normalerweise singend zu Wort meldet. Als Chef der Rockgruppe BAP hat Wolfgang Niedecken in den 80ern und 90ern bei den Eltern heutiger Kinder Meriten erworben; nun können sie ihn dem Nachwuchs als Piratenkapitän präsentieren. Ausnahmsweise ist das Hörbuch - eine opulente szenische Lesung mit vielen Sprechern und Musik - das Original, während die gleichzeitig erschienene Buchfassung ihm nachgeschrieben wurde. Kein Zufall, denn der Autor Leuw von Katzenstein hat mehr Berührung mit dem szenischen Geschäft als mit dem Verlagswesen. In Wahrheit heißt er Ludwig von Otting und ist seit vielen Jahren kaufmännischer Geschäftsführer des Hamburger Thalia Theaters. Ein eher trockener Zweig - Zahlen, Zahlen, Zahlen -, weswegen sich bei ihm offenkundig ein Fabulierstau gebildet hat, der sich im kinderliterarischen Debüt eindrucksvoll Bahn bricht. Dabei erweist der gebürtige Bayer seiner Wahlheimat Hamburg allen Respekt und erklärt historisch nicht ganz korrekt die Entstehung der Spezialitäten Labskaus und Aalsuppe (für Ortsfremde: eine Suppe ohne Aal).

    Entgegen jeder Lesepädagogik sei das gekürzte Hörbuch dem Buch vorgezogen. Aus zwei Gründen: Erstens gibt es nicht allzu viele CDs, die Eltern und Kinder auf gemeinsamen Autofahrten hören können, ohne dass sich die ältere Fraktion langweilen oder ärgern muss. Hier kommt auch bei Erwachsenen keine Langeweile auf, und statt sich wie häufig über Infantilitäten ärgern zu müssen, freut man sich über mannigfaltige versteckte Anspielungen. Zweitens fällt im Hörbuch das größte Manko des ansonsten kurzweiligen Buchs nicht so ins Gewicht wie bei der gedruckten Fassung. Gewiss, die Rahmenhandlung über den Autor und einen alten Raben, der ihm die Buckelbert-Stories überliefert, kann man als Leser überblättern, aber zu dieser Übung wollen wir unsere Kinder nicht verleiten, sonst tun sie das auch bei anderen Büchern. Der Stolperstein im Lesefluss verdanke sich dem wahren Leben, sagt der Autor in Interviews, denn tatsächlich habe er die Geschichte seinen Neffen so zu erzählen begonnen. Spätestens aber bei der Drucklegung entfällt jeder biographische Grund als Entschuldigung für eine Konstruktionsschwäche. Literatur besteht aus dem Mut, Leinen zu kappen. Das verbindet sie mit dem Piratenleben.

    Der Irrsinn auf hoher See soll damit nicht zu Ende sein.

    "'Ich würde sagen, mit einem ordentlichen Wind im Rücken sollten wir England so gegen Dienstag erreichen. Wenn wir auf direktem Weg dorthin segeln würden, kämen wir natürlich noch schneller an, aber ich habe die Seekarte genauer studiert. Zum Glück, muss ich sagen, denn wie sich herausstellte, befindet sich in der Mitte des Ozeans eine riesengroße, hässliche Seeschlange! Sie hat einen schrecklichen, weit aufgesperrten Rachen und einen dieser schuppigen Schwänze, die so ausschauen, als könnten sie ein Schiff entzweibrechen. Insofern dachte ich, es wäre wohl das Beste, um sie herumzusegeln.'

    FitzRoy runzelte die Stirn. 'Ich glaube, die Schlange wurde eher aus Dekorationsgründen auf die Karte gemalt. Das heißt noch lange nicht, dass sich tatsächlich eine Seeschlange dort aufhält.'

    Auf dem Schiff wurde es mit einem Mal merklich still. Einige der Piraten starrten angesichts des peinlichen Irrtums ihres Kapitäns betreten aus den Bullaugen. Zur allgemeinen Erleichterung kniff der Piratenkapitän jedoch nur nachdenklich seine Augen zusammen und unterließ es, jemanden wutentbrannt zu durchbohren.

    'Das erklärt eine Menge', sagte er. 'Ich nehme an, dies ist auch der Grund, warum wir den riesigen Kompass in der unteren Ecke des Atlantiks nie zu Gesicht bekommen haben. Ich muss schon sagen, das enttäuscht mich jetzt doch ein wenig.'" [Gideon Defoe: "Piraten!"]

    Ist der "Schrecken der Ozeane" ein Jugendbuch, das auch Erwachsenen gefällt, so handelt es sich bei "Piraten!" von Gideon Dafoe um ein Erwachsenenbuch, das man getrost 14-Jährigen in die Hand drücken kann. Der Autorenname lässt ebenfalls auf ein Pseudonym schließen, so wie das Buch eine einzige Parodie auf literarische und filmische Piratenvorbilder darstellt. Fürchterlich böse sind sie zwar alle an Bord, doch auch entsetzlich tölpelhaft, ungebildet und launisch. Gegenüber der schwierigen Gruppendynamik wirken die Seekämpfe wie Spaziergänge. Ein Schiff ist ja praktisch nur eine schwimmende WG:

    "Der Pirat in Grün ging nach unten, um sich ein Glas Wasser zu holen, denn er war aufgeregt und sein Hals war trocken. Neben dem Wasserbecken hing eine in der wohlvertrauten krakeligen Handschrift des Piratenkapitäns verfasste Notiz. Darauf stand: 'Wer auch immer laufend meinen Kaffeebecher benutzt, möge das unverzüglich UNTERLASSEN. Es ist ein echtes Ärgernis. Zeigt ein wenig Respekt für anderer Leute Eigentum. Der Piratenkapitän'" [Gideon Defoe: "Piraten!"]

    Britischer Humor à la Monty Python, den man in seiner Albernheit entweder schrankenlos genießt oder nach wenigen Seiten kopfschüttelnd weglegt. Immerhin enthält der Band auch jede Menge überflüssigen Wissens, sorgsam in Fußnoten gepackt. Mit seinen Hosentaschenidealmaßen 12 mal 16 Zentimetern taugt das Buch zum Begleiter an den Strand, und wenn man es dort am Abend liegen lässt, macht man anderen Menschen eine Freude, ohne sich selbst über den Verlust grämen zu müssen. Denn auch der schönste Witz funktioniert nur einmal. Bei manchen Menschen sollte man mit Witzen allerdings vorsichtig sein. Käpt'n Eisenfuß gehört ganz sicher dazu:

    "'Der Mann wurde in der ganzen Welt gesucht. (….) Er war überall zum Tode verurteilt worden, in London, in Hamburg, in Lissabon, in großen Hafenstädten in der ganzen Welt. Aber keine Stadt konnte ihn dingfest machen und die Urteile vollstrecken. Bis er in unsere Stadt kam. In unseren Mauern wurde er gefasst, in unserem Kerker hat man ihn an die Kette gelegt, und auf unserem Marktplatz baute der Henker mit seinen Helfern den Galgen auf. Einen Tag später machten sie lange Gesichter. Der Käpten ist ein zäher Hund. Als er das Beil zugesteckt bekam und sich seinen Fuß abhackte, warteten schon seine Leute und brachten ihn zurück aufs Schiff. Und mich haben sie ganz einfach mitgenommen.'
    'Entführt?'

    Dok nickt. 'Damit ich ihm sein kaputtes Bein versorge. Die ersten Jahre habe ich immer wieder versucht zu fliehen, aber jedes Mal hat Eisenfuß mich dann doch noch erwischt, egal, wo ich mich verstecken wollte.'

    'Und nun bleibt Ihr einfach auf dem Schiff und lächelt? Als Gefangener?'

    Dok seufzt. 'Das wirst du vielleicht nicht verstehen, Junge. Eines Tages habe ich begriffen, dass dieses hier wohl wirklich mein Schicksal ist. Hier werde ich gebraucht, und hier kann ich helfen. Diese armen Teufel hätten sonst niemanden, der sie bei Krankheiten und bei Verletzungen versorgen könnte. Sie würden wegsterben wie die Fliegen. Nun bin ich eben kein Landarzt mehr, sondern Schiffsarzt auf der Kralle.''

    'Arme Teufel nennt Ihr dieses Pack?', ruft Randolf empört. 'Das sind ganz üble Kerle! Hinterhältig und gemein!'

    'Ich bin kein Richter, sondern Arzt. Es sind Menschen. Jeder wurde eines Tages durch irgendein Unglück aus der Bahn geworfen. Sie wurden vertrieben, verstoßen und verjagt. Ein anderes Leben als dieses bleibt ihnen nicht übrig. Ob das immer ihre eigene Schuld ist oder nicht – wie soll ich das beurteilen?'" [Wolfram Eicke: "Das silberne Segel"]

    In Wolfram Eickes Roman "Das silberne Segel" herrscht ein erkennbar anderer Ton als den beiden vorangegangenen Piratenbüchern. Nicht komisch und überdreht, sondern ernst und hart geht es im Leben des 14-jährigen Randolf zu. Wer wie er zu schlimmer Zeit in Deutschland leben muss, ist kaum zu Scherzen aufgelegt und fürchtet das Piratenleben, statt seiner Romantik zu erliegen. Die Soldateska des 30-jährigen Kriegs hat sein Elternhaus zerstört und den Sohn eines Schneiders auf die Straße getrieben. Als Bettler schlägt er sich durch, bis ihn ein seltsamer Traum von einem silbernen Segel ans Meer und dort in die Arme des Käptn Eisenfuß’ führt. Denn auch der wurde von diesem Traum heimgesucht und jagt nach dem sagenumwobenen, freilich in seinen Augen nicht magisch leuchtenden, sondern metallisch-materiellen Schatz. Er ist kein sympathischer Pirat, sondern ein grausamer Despot über Leben und Tod. Und weil Randolf in seinem jungen Leben bereits viele Grausamkeiten erfahren hat, kann er den Freibeuterkapitän am Ende der Reise richtig einschätzen:

    "Ja, Eisenfuß hasst sich. Er hat sich immer gehasst. Minderwertig hat er sich gefühlt, schon als Junge. Sein Vater, ein Bauer, hatte ihm nie vertraut. Im Gegenteil. Er hat ihn verprügelt und angeschrien: 'Niete! Null! Versager! Du Faulpelz wirst niemals den Hof erben!' Er war geflohen. Weg, weit weg von allen Bauernhöfen dieser Welt, raus aufs Meer! Dem Vater werd ich zeigen, was ich für ein Kerl bin! Allen werd ich's zeigen! Der ganzen Welt! Und hab ich das nicht geschafft? Wie jeder grausame Herrscher, wie jeder Unterdrücker hat er sein Leben lang aus Hass gehandelt. Hass auf andere, Hass gegen sich selbst. Und seine Tapferkeit, sein Mut? Das war Tollkühnheit gewesen. Leichtsinn. Sein Leben war ihm wenig wert, da konnte er es leicht aufs Spiel setzen." [Wolfram Eicke: "Das silberne Segel"]

    Der Jugendbuchautor Wolfram Eicke schreibt spannend, historisch genau und realistisch - sozusagen als Antidot gegen die allzu harmlose Behandlung des Piratenstoffs als Comedy-Reservoire. Gewalt ist bei ihm Gewalt und keine Vergnügung von Stuntmännern im Film. Leider kann er der Fantasy-Verlockung auf Dauer nicht widerstehen und mischt zu viele modische Ingredienzien von Hellseherei und Magie in sein historisches Genrebild ein. Schade - aber wahrscheinlich ist ein Markterfolg anders kaum zu haben. Um Krieg geht es auch im nächsten Buch, wenngleich der Titel "Kensukes Königreich" eine falsche Fährte legt.

    "Die Insel war vielleicht zwei, drei Meilen lang, mehr nicht. Sie hatte in etwa die Form einer in die Länge gezogenen Erdnuss (…). Auf beiden Seiten erstreckte sich ein langer Streifen blendend weißen Sandes und am gegenüberliegenden Ende der Insel erhob sich ein zweiter Berg, dichter bewaldet und mit steileren Abhängen, aber nicht so hoch. Bis auf die nackten Gipfel schien die ganze Insel von Wald bedeckt zu sein. So weit ich sehen konnte, keine Spur menschlichen Lebens."[Michael Morpurgo: "Kensukes Königreich"]

    Die Robinsonade aus der Hand des englischen Kinderbuchautors Michael Morpurgo spielt in der Gegenwart, und Kensuke ist kein Eingeborenenkönig, sondern ein japanischer Überlebender des Zweiten Weltkriegs. Seine Familie wähnt er beim Atombombenabwurf auf Nagasaki umgekommen, und so richtet er sich auf einer winzigen Südseeinsel wohnlich ein, die er in den letzten Kriegsmonaten 1945 betritt. Solche Fälle gab es tatsächlich, so wie auch der Ur-Robinson von Daniel Defoe auf einen authentischen Fall zurückging. Als im Buch der zwölfjährige Michael schiffbrüchig an den Gestaden dieses Eilands angespült wird, ist freilich eine sehr lange Zeit vergangen. Beinahe 60 Jahre hat Kensuke alleine in seinem Königreich geherrscht und seine Fähigkeit zum Zusammenleben gründlich eingebüßt. Nur eine blasse Erinnerung an die eigenen Kinder lässt ihn den Jungen heimlich versorgen, dennoch bleibt es ein weiter Weg bis zur Kontaktaufnahme. Die beiden Gestrandeten werden ein ganz anderes Paar als Robinson und Freitag, gewöhnen sich aber schließlich aneinander und lernen, die krass unterschiedlichen Lebensbedürfnisse des sehr jungen und des sehr alten Inselbewohners zu akzeptieren. Ein sensibler Entwicklungsroman über Fremdheit, Freundschaft und Individualität, der auf ungewöhnliche Weise an den Zweiten Weltkrieg erinnert.

    Etliche Jahre vor dessen Ausbruch - dies als Schlusstipp angefügt - schrieb die in Asien lebende, spätere Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck "Die große Welle". Eine schmale Erzählung über ein Naturphänomen, dessen Namen wir vor anderthalb Jahren mit Schrecken erlernten: Tsunami. In dem von Pearl S. Buck geschilderten japanischen Fischerdorf gehören Tsunamis zur tradierten Lebenserfahrung - nicht jede Generation trifft es, doch jede zweite oder dritte wird vom Meer allen Eigentums und vieler Leben beraubt. Keine heitere, ja vielleicht sogar ein bisschen zu sentimentale Lektüre, jedoch mit einer klaren Botschaft: Unser Leben steht nur scheinbar fest verankert. Eine Welle kann alles vernichten, und vor diesem Hintergrund sei jeder Tag gepriesen.

    Besprochene Bücher:

    Pearl S. Buck: "Die große Welle"
    Aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
    Illustrationen von Nina Spranger
    Ravensburger, 87 Seiten, 4,95 Euro

    Gideon Defoe: "Piraten!"
    Aus dem Englischen von Don Marco
    Heyne Verlag, 174 Seiten, 10 Euro

    Wolfram Eicke: "Das silberne Segel"
    Rowohlt Rotfuchs, 254 Seiten, 12,90 Euro

    Gillian Johnson: "Thora Meermädchen"
    Aus dem Englischen von Gerda Bean
    Illustrationen von der Autorin
    Rowohlt Rotfuchs, 224 Seiten, 6,90 Euro

    Leuw von Katzenstein: "Der Schrecken der Ozeane"
    Illustrationen von Thomas M. Müller
    Beltz & Gelberg, 284 Seiten, 14,90 Euro
    Gekürzte Fassung als Hörbuch:
    Hörcompany, 5 CDs, 19,95

    Michael Morpurgo: "Kensukes Königreich"
    Aus dem Englischen von Yvonne Hergane
    DTV, 154 Seiten, 6,50 Euro

    Hilke Rosenboom: "Melissa und die Meerjungfrau"
    Illustrationen von Anke Kuhl
    Carlsen, 100 Seiten, 7,90 Euro

    Sabine Wisman: "Ich bin ein Meermädchen"
    Aus dem Niederländischen von Monica Barendrecht und Thomas Charpey
    Illustrationen von Annet Schaap
    Urachhaus, 106 Seiten, 11,90 Euro