Donnerstag, 16. Mai 2024

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"Mefistofele"

Der Amsterdamer Himmel über Goethes Faust ist ein graues, ziemlich leeres Weltall. Allerdings mit Tribüne, auf der einige Zaungäste der Erdgeschichte sitzen. Der blaue Planet schwebt in steter Drehung durch Gottes Niemandsland. Wie aus unbestimmten Fernen dringen die Lobgesänge zu den Ohren der Zuschauer. Auch die leicht gewölbte, metallisch schimmernde Bodenfläche füllt sich mit ruhig gestellten Figuren. Nur der eine im Sessel gerät in Bewegung und wendet sich dem Auditorium zu:

Von Frieder Reininghaus | 08.10.2004
    Es ist der stattliche Gidon Saks mit seiner Mords-Stimme, der mit dem unsichtbar bleibenden Gott hadert und ihm die Wette um die Seele des Dr. Faust abhandelt und damit die Versuchsanordnung für die anschließende Szenen-Folge bestimmt. Die Inszenierung des Prologs ohne Wölkchen und Engelsflügel ist so plausibel wie das weitere in der Produktion von Graham Vick: Sein Frankfurt, in dem der alternde Gelehrte Johann Heinrich Faust den Osterspaziergang absolviert, ist ein grelles Chaos von heute - mit Plastik-Utensilien aus dem Vergnügungspark. Ein großes Plakat der Stadtwerbung aus jüngster Vergangenheit - mit der Silhouette des Römer und der fetten Schrift "Frankfurt was für ein spaß" - wird beim Wort genommen.

    Aus einem überschweren Geländewagen mit Hamburger Kennzeichen steigen relevante Teile des Opernchors und bequemen sich zum Picknick am Mainufer. Hooligans zeigen Schal mit den Farben Deutschlands und starkbunte Freizeit-Klamotten. Sackhüpfen und andere groteske Formen der Körperertüchtigung sind angesagt.

    Famulus Wagner wird, nachdem er sich beim Chef gebührend einschleimte, am Rande mit einem Strichjungen handelseinig. Der in dieser Version nicht als Pudel, sondern als Mönch sich heranschleichende Mephisto hinterlässt eine Feuerspur; er dringt in die gläserne Studierstube vor. Der Gelehrten hört sich das Ansinnen von der Designer-Liege aus an.

    Mit historistischer Erkundung von Fausti oder Goethes Lebenswelt hat Paul Browns Ausstattung nichts im Sinn. Margherita wartet auf die Liebe ihres kurzen Lebens in einem blumenbestückten Gewächshaus, vor dem der holländische Salat grünt. Der humanisierte Teufel und Marthe Schwertlein treten die Köpfe bei ihrer Liebes-Anbahnung in tausend Blätter. Das gänzlich leere und stark ramponierte Glashaus ist Gretchens Kerker - und zur Gefängnisszene spannt sich eine Stromleitung aus dem immer noch grauen Himmel hinunter in diese arge Welt; auf ihr sitzen, wie Krähen, wieder drei Statisten.
    Die Sphäre der klassischen Walpurgisnacht ist die einer herrlichen herzoglichen Bibliothek, die in Brand gerät: Feuerzauber der bösen Sorte noch einmal. Miriam Gauci, das wahnsinnig gewordene, gerichtete und gerettete Gretchen, ist nun griechisch-italienische Elena.

    Plausibel erscheint in Graham Vicks Inszenierung schließlich auch, wie Faust und Mephisto gemeinsam altern und sterben. Die Normalität der Jetztzeit mag sie erlösen. Problematisch allein bei der in Amsterdam gewählten Form der Übertragung des Stoffes in variantenreiche Bilder aus einem einheitlichen Grundhaushalt an Motiven bleibt der um viele Kühlschränke gruppierte Hexensabbat auf dem Brocken. Insgesamt aber erscheint der Zugriff auf Boïtos frühes Meisterwerk an der Niederländischen Nationaloper ungleich gelungener als der jüngst in Frankfurt von Dietrich Hilsdorf inszenierte - und Carlo Rizzi animiert nicht nur das diensthabende Nederlands Radio Symfonie Orkest zu einer guten Leistung, sondern koordiniert auch das Riesenaufgebot von singenden Personen auf der Bühne tadellos. Solch Gewimmel sieht und hört man gern.