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"Mefistofele" in Stuttgart
Das Böse ist bildmächtig

Erlösung wie bei Goethe gibt es für Faust bei Boito nicht. Der italienische Dichter-Komponist Arrigo Boito, Librettist von Giuseppe Verdis "Otello" und "Falstaff", reflektiert in "Mefistofele" über die Macht des Bösen. In Stuttgart hat Àlex Ollé „Mefistofele“ bildkräftig in Szene gesetzt.

Von Elisabeth Richter | 17.06.2019
Mefistofele von Arrigo Boito Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog Libretto vom Komponisten nach Johann Wolfgang von Goethes Faust I und II. Auf dem Bild Mika Kares (Mefistofele) und Staatsopernchor Stuttgart.
Eine Szene aus "Mefistofele" an der Staatsoper Stuttgart (Staatsoper Stuttgart / Thomas Aurin)
"Mephistopheles ist die Schlange im Garten Eden, er ist der Geier, der von Prometheus’ Leber zehrt." So der Dichter-Komponist Arrigo Boito im "Prolog auf dem Theater" über den Protagonisten seiner Faust-Oper. Àlex Ollé, Regisseur von Boitos "Mefistofele" in Stuttgart kehrt den Spieß ein wenig um: Im Prolog bedrängen ein paar gierige Engel oder Geier diesen Teufel, und einer hackt ihm sein Herz aus der Brust. Das, so kann man verstehen, ist die Geburt des Bösen. Mephisto hat kein Herz und kann deswegen skrupellos seine Untaten begehen.
Doch so einfach funktioniert das nicht. Anscheinend blieb ein bisschen Herz erhalten und wächst wie Prometheus’ Leber immer wieder nach. Singen die himmlischen Heerscharen sanfte Klänge von Liebe, zeigen Faust oder Margherita Tendenzen zum Rechtschaffenen, so löst dies – nach Sicht von Àlex Ollé – ungeheure Qualen in Mefistofeles herzloser Seele aus. Immer wieder hält er sich, begleitet von Stöhnen und anderen gequälten Lauten, die Ohren zu.
Mefistofele - ein Psychopath
Ein Psychopath, die Personifizierung der grausamen Wildheit des Bösen, soll der Titelheld von Boitos Oper sein, schreibt Ollé im Programmheft. Der grandiose, alle Facetten des Diabolischen mit seinem dunkel-mächtigen Timbre abbildende finnische Bassist Mika Kares entpuppt sich hier als Idealbesetzung – nur manchmal wünschte man sich als Kontrast auch ein paar zurückgenommene Töne.
Àlex Ollé lässt seinen Mefistofele - sowie Faust und Margherita - weniger durch schauspielerische Feinheiten und Spannung wirken, als durch das bildmächtige Bühnensetting von Alfons Flores. In einem giftgrün ausgeleuchteten Labor seziert Faust blutverschmiert Gliedmaßen mit vielen anderen an Tischen in Reih und Glied. Flugs mutiert die Szene beim Osterfest zu einer in laszives Rot getauchten Strip-Orgie. Später fungiert eine gigantische Treppengerüst-Konstruktion als Gefängnis der Muttermörderin Margherita, die hoch oben per elektrischem Stuhl ins Jenseits befördert wird. Auf demselben Stuhl erwacht Margherita nur wenig später aus der Düsternis dann als antike Helena in grellem Blau und einer Art Varieté-Ambiente im Arkadien von Àlex Ollé. Für den Epilog kehrt das Giftgrün des Prologs zurück, glücklich ist Faust weder mit Margherita noch Helena geworden. Ob seine Vision, Herrscher einer befreiten Welt zu werden, und sein von den Engeln verkündeter naher Tod ihn letztlich zum berühmten "Augenblick, verweile doch, du bist so schön" hinreißen, lässt Àlex Ollé rätselhaft offen. Mefistofeles schneidet ihm jedenfalls plötzlich die Kehle durch.
Das Voyeuristische zu stark im Vordergrund
Von der auf Effekt setzenden Regie scheint sich Dirigent Daniele Calligari in der musikalischen Herangehensweise inspiriert gefühlt zu haben. Er setzte stark auf Boitos auf Überwältigung zielende Klanggewalten im Geiste Richard Wagners und nahm dabei auch ein stark überreiztes Forte des Staatsorchesters Stuttgart in Kauf. Boito war bekennender Wagnerianer, aber seine Partitur enthält bereits visionär auch den durchsichtigen Parlando-Ton Puccinis und ist gleichzeitig retrospektiv der Italianità etwa eines Giuseppe Verdi verbunden.
Neben dem herausragenden Bassisten Mika Kares als Mefistofele punktete besonders Antonello Palombi als Faust mit seinem italienischen Tenor-Timbre, während der gewichtige Sopran von Olga Busuioc das Hochdramatische der Margherita- und Helena-Partie eindrücklich abbildete.
Das Auge ist fraglos von Àlex Ollés Bildwelten bei Boitos "Mefistofele" gebannt, es bleibt auch Freiraum für eigene Assoziationen. Dennoch steht das Voyeuristische zu stark im Vordergrund. Es fehlen die ruhigen Reflektionsmomente. Das Böse wird greifbarer im Kontrast mit dem Bewusstsein des Guten als Widerpart.