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Mehr als bloßes Wissenwollen

Philosophieren war für Karl Jaspers nicht bloß eine akademische Übung. Es war die unaufhörliche Suche nach grundlegenden Orientierungen der menschlichen Existenz - vor allem in den Grenzsituationen des Lebens. Karl Jaspers ist der Begriff der "Existenzphilosophie" zu verdanken - auch wenn sein Name dabei gegenüber Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger eher in Vergessenheit geraten ist.

Von Hans-Martin Lohmann | 23.02.2008
    Karl Jaspers, geboren am 23. Februar 1883 im norddeutschen Oldenburg, interessierte sich zunächst für Medizin und Psychiatrie, ehe er sich der Philosophie zuwandte. Nach dem Studium und Assistenzjahren an der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg veröffentlichte er sein erstes bedeutendes Werk, die "Allgemeine Psychopathologie", mit der er sich einen wissenschaftlichen Namen und zugleich die universitäre Lehrbefugnis erwarb.

    Sein nächstes Buch, die "Psychologie der Weltanschauungen" von 1919, trug ihm den Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg ein. Hier lehrte er bis 1948, allerdings mit einer Unterbrechung in den Jahren 1937 bis 1945. Wegen der Ehe mit seiner jüdischen Frau Gertrud wurde er von den Nazis politisch kaltgestellt und mit einem Lehr- wie Publikationsverbot belegt. Über diese drückenden Jahre der physischen Bedrohung schrieb Jaspers rückblickend:

    "Äußerlich sind wir ohne Schaden davongekommen. Der Abtransport war (…) für den 14. April 1945 vorgesehen. Andere Transporte hatten in den Wochen vorher schon stattgefunden. Am 1. April wurde Heidelberg von den Amerikanern besetzt. Ein Deutscher kann es nicht vergessen, dass er mit seiner Frau sein Leben den Amerikanern verdankt, gegen Deutsche, die im Namen des nationalsozialistischen deutschen Staates ihn vernichten wollten."

    In Heidelberg schloss Jaspers sich dem Kreis um Max Weber an und suchte die Bekanntschaft mit bedeutenden philosophischen Zeitgenossen, etwa mit Martin Heidegger, Edmund Husserl, Georg Lukács und Ernst Bloch. Die Heidelberger Jahrzehnte kann man als die fruchtbarsten seiner wissenschaftlichen Laufbahn bezeichnen, wobei es nicht leicht ist, seine Philosophie auf einen einfachen Nenner zu bringen.

    Philosophieren war für Jaspers keine akademische Übung, kein bloßes Wissenwollen, vielmehr die unaufhörliche Suche nach grundlegenden Orientierungen der menschlichen Existenz, die der Erfahrung von "Grenzsituationen" ausgesetzt sei: Die Unvermeidlichkeit der Erfahrung von Leiden, Tod, Schuld und der Geschichtlichkeit seiner Situation zwinge den Menschen zur philosophierenden "Existenzerhellung" des Daseins.

    "Welt", "Existenz" und "Transzendenz" sind die zentralen Stichworte von Jaspers’ systematischem Hauptwerk von 1932, das den ebenso schlichten wie anspruchsvollen Titel "Philosophie" trägt. Der "existentialistische" Gestus der Jaspersschen Philosophie, die stark von Kierkegaard und Nietzsche inspiriert ist, liegt in ihrem gleichsam drängenden Charakter, in dem Bedürfnis, die Grenzen des Nur-Denkens zu überschreiten und "lebenspraktisch" zu werden:

    "Ich suchte als Lehrer das Gewissen anzusprechen: nicht nur als intellektuelles Gewissen, richtig zu denken, sondern das existentielle, das es für verderblich hält, sich in intellektueller Unverbindlichkeit mit sogenannten philosophischen Problemen abzugeben."

    Jaspers’ Existenzphilosophie mit ihren eingängigen Appellen an Verantwortungs- und Entscheidungsbereitschaft hat in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts breiten Einfluss vor allem auf Pädagogik und protestantische Theologie entfaltet. Zugleich rief sie die Kritik jener auf den Plan, die ihr, wie etwa Theodor W. Adorno, bescheinigten, hinter der scheinbar radikalen Frage nach der menschlichen Existenz verberge sich nichts als geistiger Konformismus, der sich in einem "Jargon der Eigentlichkeit" artikuliere. Damit war neben Jaspers vor allem Heidegger gemeint.

    In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mischte sich Jaspers immer entschiedener in öffentliche politische Debatten ein, wovon nicht zuletzt auch sein Briefwechsel mit der Freundin Hannah Arendt zeugt. So meldete er sich 1946 in einer vielbeachteten Schrift zur Frage der deutschen Schuld zu Wort. Obwohl als moralische Instanz in Nachkriegsdeutschland dringend gebraucht, zog Jaspers es 1948 jedoch vor, einem Ruf an die Universität Basel zu folgen.

    In den Hochzeiten des Kalten Krieges erhob Jaspers immer wieder seine Stimme gegen die atomare Hochrüstung der beiden Weltmächte, in der er die größte Bedrohung für die Freiheit und die Zukunft der Menschheit erkannte. Im Rückblick auf den ersten Einsatz der Atombombe äußerte er 1956:

    "Aber diese ersten, schon so erschreckenden Bomben waren geringfügig gegen die inzwischen in menschenleeren Gebieten versuchsweise abgeworfenen, deren Energieentfaltung die der Bombe auf Hiroshima um das 600-fache übertrifft."

    Drei Jahre vor seinem Tod schließlich machte Jaspers mit der Schrift "Wohin treibt die Bundesrepublik?" eine kritische Bilanz auf, die wenig schmeichelhaft für die Westdeutschen ausfiel, indem sie ihnen ihre politischen und moralischen Versäumnisse vorhielt. Es scheint, als habe er erst im Alter und aus der Schweizer Distanz die Kraft gefunden, klare politische Positionen zu beziehen - diesseits einer Philosophie der Existenz. Karl Jaspers starb am 26. Februar 1969 in Basel.