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Mehr als ein Sprachenstreit

Radikale Forderungen der Flamen und Blockaden von französischer Seite haben dazu geführt, dass Belgien 162 Tage nach der Wahl immer noch keine Bundesregierung hat. Und jede Woche kommt neuer Streit hinzu. Doris Simon berichtet.

    Eingehüllt in eine riesengroße belgische Trikolore steht Claire auf einem Mäuerchen und schaut auf die Tausenden von Demonstranten, die die fünfspurige Rue de la Loi im Brüsseler Europaviertel hochziehen. Dazwischen erklingt immer wieder die Brabanconne, Belgiens Nationalhymne. Um den Hals trägt die Studentin einen alten Fotoapparat. Leider, erzählt sie, sei der Film schon voll, dabei gebe es so viele schöne Motive: die Gruppe, die von den Füssen bis zu den Zipfelmützen in den belgischen Farben Schwarz, Gelb, Rot gekleidet ist, die alte Dame, die mit einem handgemalten Schild darauf hinweist, dass ihre Oma aus dem flämischen Mechelen und ihre Mutter aus Gent kam. Hier geht es um meine Zukunft, sagt die 19-jährige Claire:

    "Für mich persönlich ist diese Demonstration sehr wichtig, ich bin in Belgien geboren, hier aufgewachsen, und ich möchte weiterhin in einem Land namens Belgien leben. Die Situation ist doch surrealistisch, und wenn man nicht in Belgien geboren ist, kann man das kaum verstehen: Wir sind so ein kleines Land, und auch wenn wir unterschiedlich sind, haben wir doch immer zusammengelebt. Ich verstehe nicht, warum wir uns trennen sollten."

    So oder ähnlich fühlen alle 35.000 Belgier, die an diesem Tag in Brüssel demonstrieren. Und dass sie demonstrieren, ist schon ein Ereignis an sich, schließlich gehen Belgier nur selten auf die Straße. Zuletzt war das im Sommer 1996 der Fall auf dem Höhepunkt der Affaire Dutroux.

    Schwierige Regierungsbildungen und Streit zwischen den Sprachgemeinschaften sind Alltag im Königreich. Doch 162 Tagen ohne Regierung sind nicht nur ein trauriger Rekord. Die Folgen sind ganz konkret: Weil die noch amtierende alte Regierung keine gestaltenden Entscheidungen treffen kann, bleiben wichtige Dossiers liegen, Probleme werden nicht angegangen. Die belgische Wirtschaft tröstet sich nur damit, dass es wenigstens den Euro gibt - den alten belgischen Franc hätte diese Regierungskrise mit voller Wucht getroffen. Wir müssen uns Gehör verschaffen, meint die 40-jährige Anne, für die es die erste Demonstration ihres Lebens ist:

    "Die Politiker vergessen die drängenden Probleme, die viel wichtiger sind als der Sprachenstreit: Soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme, Klimawandel und andere Fragen, die viel wichtiger sind als die Teilung von Brüssel-Halle-Vilvoorde und solche Sachen."

    Seit Monaten lähmt der Streit über eine Aufteilung des zweisprachigen Wahl- und Gerichtsbezirkes Brüssel-Halle-Vilvoorde entlang der Sprachgrenzen die Koalitionsverhandlungen: Radikale Forderungen von flämischer Seite und Blockaden von französischer Seite haben dazu geführt, dass Belgien 162 Tage nach der Wahl immer noch keine Bundesregierung hat. Und jede Woche kommt neuer Streit hinzu.

    Letzter Auslöser war die endgültige Weigerung des flämischen Innenministers, drei gewählte französischsprachige Bürgermeister in flämischen Randgemeinden von Brüssel zu ernennen. Der Grund: Sie hatten Wahlaufforderungen in französischer Sprache versandt und bei Gemeinderatssitzungen Französisch gesprochen. Über die Parteigrenzen hinweg setzten sich daraufhin die frankophonen Parteien zusammen, entrüsteten sich und erklärten, vorerst gebe es keine Koalitionsgespräche mehr. Auch Außenminister Karel de Gucht, der für die flämischen Liberalen mitverhandelt, findet, den Bürgern sei das alles kaum noch zu vermitteln:

    "Man kann das auch alles nicht mehr normal finden - nach fünf Monaten immer noch keine Regierung, und 2009 gibt es schon wieder Wahlen. Kein Wunder, wenn die Leute anfangen, das für eine absurde Komödie zu halten. Das ist doch normal."

    Doch ohne einen Fahrplan für eine weitergehende Autonomie der Regionen werden die flämischen Christdemokraten von Möchtegern-Regierungschef Yves Leterme und vor allem die mit ihnen verbundenen flämischen Separatisten von der NVA keinem Koalitionskompromiss zustimmen. Die frankophonen Parteien fürchten dadurch Nachteile für ihre ärmeren Landesteile. Die Verhandlungen über die Regierungsbildung sind derzeit offiziell unterbrochen, aber nun haben sich als erste die frankophonen Liberalen aus der Deckung gewagt: Doch, man könne sich bis Sommer 2008 auf eine Staatsreform einigen, hat ihr Unterhändler Charles Michel im flämischen Fernsehen gesagt - aber nicht ohne Bedingung:
    "Wir warten aber auf ein Signal der flämischen Parteien, eine Verpflichtung etwa, nicht mehr einfach eine Sache mit ihrer parlamentarischen Mehrheit durchzudrücken, oder eine Verpflichtung, loyal zu Belgien im föderalen Rahmen zusammenzuarbeiten."

    Auch die Studentin Claire hat an diesem Wochenende nach der Demonstration einen Beschluss gefasst, der viel verändern könnte, wenn er Schule machte:

    "Ich spreche ziemlich schlecht Niederländisch. Ich habe mir vorgenommen, dass ich einen Intensivkurs Niederländisch mache, sobald ich mein Examen habe. Mir ist klar geworden, dass das sehr wichtig ist."