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Mehr als eine deutschsprachige Dichterin jüdischer Herkunft

Die vor 40 Jahren verstorbene Schriftstellerin Nelly Sachs galt lange Zeit als lyrische Anwältin Israels, ihr Werk wurde nicht zuletzt durch die Begründung zum Erhalt des Nobelpreises 1966 oft auf die jüdische Thematik festgeschrieben. Dem schwedischen Schriftsteller Aris Fioretos ist es nun gelungen, mit einer neuen Werkausgabe den Blick auf den gesamten literarischen Kosmos von Nelly Sachs zu öffnen.

Von Carola Wiemers | 12.05.2010
    Nelly Sachs
    ALS DER GROSSE SCHRECKEN KAM
    wurde ich stumm -
    Fisch mit der Totenseite
    nach oben gekehrt
    Luftblasen bezahlten den kämpfenden Atem
    Alle Worte Flüchtlinge
    in ihre unsterblichen Verstecke
    wo die Zeugungskraft ihre Sterngeburten
    buchstabieren muß
    und die Zeit ihr Wissen verliert
    in die Rätsel des Lichts -


    Wem Flucht zur Heimat wird, dem erscheinen auch die Worte wie "Flüchtlinge". Nelly Sachs hat das Unterwegssein zur poetischen Bewegung in ihrer Dichtung gemacht. Von der NS-Rassenpolitik enteignet und verfolgt, gelingt es ihr, Berlin 1940 mit dem letzten Passierflugzeug zu verlassen. Im schwedischen Exil verfügt sie, dass ihr gültiges literarisches Werk mit dem Fluchtdatum verknüpft wird. Sie spricht der davor "ganz ohne Schicksal" entstandenen Dichtung ihre Berechtigung ab. Ortlos nennt sie fortan ihr Dasein, das einzig dem Schreiben gewidmet ist.

    Im Oktober 1947 vertraut sie dem befreundeten Schriftsteller Carl Seelig an:

    "Wir nach dem Martyrium unseres Volkes sind geschieden von allen früheren Aussagen durch eine tiefe Schlucht, nichts reicht mehr zu, kein Wort, kein Stab, kein Ton."

    Alles, was vor der historischen Zäsur entstand, ca. 300 Gedichte, ein Band mit Erzählungen und Legenden, Theater- und Marionettenspiele sowie einige Prosastücke, wollte Nelly Sachs weder veröffentlicht noch biografisch verzeichnet sehen. Der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos betont:

    "Das Thema des Abschieds, der Trennung - das spielt eine durchaus wichtige Rolle danach, man könnte sogar sagen, das ist das Thema der Nelly Sachs. Und was sie dann aber tut nach der Flucht, ist eben im Lichte oder vielmehr glaube ich, im Schatten der Shoa anzufangen zu schreiben. Mit dieser Geste, mein Werk darf erst ab 40 gelten, sagt sie auch, dass sie als Autorin mit der Vernichtung des jüdischen Teils der Menschheit, ist sie geboren."

    Aris Fioretos zeichnet als Herausgeber einer kommentierten Werkausgabe in vier Bänden verantwortlich, die 2010 im Suhrkamp Verlag erscheint, und ist Kurator der Nelly-Sachs-Ausstellung "Flucht und Verwandlung" im Jüdischen Museum Berlin. 70 Jahre nach ihrer Flucht und anlässlich ihres 40. Todestages geht es Fioretos nicht nur darum, das bis heute vernachlässigte Œuvre der Nelly Sachs für ein breites Publikum zu öffnen.

    "Ich hoffe, wir können Seiten von Nelly Sachs präsentieren, die bisher vielleicht unbekannt geblieben sind. Nicht nur unterbelichtet, sondern wirklich unbekannt. In der Werkausgabe würde ich sagen, dass vielleicht ungefähr 30 Prozent des Textmaterials bisher nie veröffentlicht worden ist. Insofern gibt es neue Aspekte und neue Sichtweisen, die sich da ermöglichen. Die Werkausgabe ist zudem auch kommentiert, es ist keine textkritische Ausgabe, aber es ist eine reichlich kommentierte Ausgabe, die das Werk der Nelly Sachs historisch, kulturell, literarisch einbettet.
    Insofern wird man zum ersten Mal wirklich sehen, was sie ab dem 16. Mai 1940, nämlich ab dem Tag, wo sie aus Deutschland, aus Berlin floh, alles geleistet hat."

    Bei seinen Recherchen im Nachlass der Königlichen Bibliothek in Stockholm, im Marbacher Archiv sowie im Walter-A.-Berendsohn-Archiv in Dortmund entdeckte Fioretos überraschende Kostbarkeiten. Neben einer beträchtlichen Anzahl bislang unveröffentlichter Gedichte sind es vor allem verschiedene Prosaarbeiten, Szenische Dichtungen, Aufzeichnungen und die sogenannten Briefe aus der Nacht, die Nelly Sachs nach dem Tod der Mutter zwischen 1951 und 53 schrieb. Sie hatte für das 30-seitige Typoskript zwar noch keinen Titel, aber alles für eine Publikation vorbereitet.

    Nachdem aber ihre Gedichtsammlung "Sternverdunkelung", die 1949 im Amsterdamer Bermann-Fischer/Querido-Verlag erschienen war, kaum Beachtung fand, teilte sie dem schwedischen Schriftsteller und Übersetzer Johannes Edfelt mit:

    "In Deutschland lehnt man bei fast allen Verlegern Dichtung ab, die noch über Rilke hinaus eine Form für diese unsere zerbrochene Welt sucht. Es soll alles glatt und harmonisch im früheren Sinne sein. Wie ist das möglich, fragt man sich, aber das Publikum gibt die Antwort und kauft neue Dichtung nicht."

    Dem Nachlassverwalter ihrer Werke, Hans Magnus Enzensberger, ist es zu danken, dass neben den "Briefen aus der Nacht", die Nelly Sachs als eigenständige Gattung innerhalb des Werkes bezeichnet, nun viele bislang unveröffentlichte Texte erscheinen können. Als Lektor im Suhrkamp Verlag verantwortete er 1961/62 eine erste Ausgabe ihrer Gedichte und Szenischen Dichtungen.

    Dass dieses Werk an einem Küchentisch in einer kleinen Stockholmer Wohnung entstand, in ihrer "Kajüte" - wie Nelly Sachs es nannte - wird gern betont.

    Zwar bezeichnet auch Fioretos diese vier Quadratmeter als Urpunkt ihres literarischen Kosmos. Wesentlicher aber scheint ihm ein poetologischer Aspekt:

    "Dann habe ich in Archiven zufällig ein Manuskript entdeckt, das eigentlich kein richtiges Manuskript ist, sondern eher eine Reihe von Exzerpten wahrscheinlich so um 1960 geschrieben. Dieses Manuskript heißt oder trägt den Titel 'Urpunkt'. Der Urpunkt ist in der Kabbala, in der jüdischen Mystik, vor allem im Buch 'Sohar' - das Gründungsdokument der jüdischen Mystik, schwer entzifferbar, schwer enträtselbar - von Gershom Scholem, den großen deutsch-jüdischen Berlinischen Gelehrten kommentierten Text - der zentrale Begriff.

    In dem Exemplar von Nelly Sachs - dieser Scholem-Ausgabe - ein Exemplar, das sie kurz nach vor dem Tod der Mutter vom damaligen Stockholmer Rabbiner bekommen hatte, in diesem Exemplar ist die Stelle, wo der Urpunkt zum ersten Mal besprochen wird - und das ist zufällig da, wo es darum geht, wie kann die Welt aus Nichts entstehen, da erscheint zum ersten Mal der Begriff Urpunkt. Und da zeichnet sie im Marginal des Buches einen großen blauen Punkt. (Lachen!)

    Und natürlich kann man dann anhand der vielen Anstreichungen in diesem Buch auch sehen, wie sie sich von dieser Thematik fesseln lässt. Dieses Manuskript eben, mit dem Titel 'Urpunkt' versehen, ist so etwas, wenn man will, wie die DNA ihrer Auffassung des poetischen Universums, das sie dann zu erzeugen versucht."

    Noch in der Berliner Zeit, also vor der Flucht, war Nelly Sachs auf die jüdische Mystik und den Chassidismus aufmerksam geworden. Max Kreutzberger - dem Mitbegründer und Sekretär des Leo-Baeck-Instituts in New York -, erklärte sie 1947, dass diese Mystik für viele Verfolgte "wie eine Feuerader" war, die aus der "Sehnsuchtsgeschichte unseres Volkes" aufblühte.

    Im Exil fand Nelly Sachs durch die Kabbala zu einer "Religion des Alltags". Und sie begründet zugleich eine spezielle Mnemotechnik, die ihrer Dichtung fortan zugrunde liegt. Scholems "Glaube an das hörbar gewordene Geheimnis in der Sprache" hilft ihr bei der eigenen Suche nach einem Glauben in der Sprache. Dass bei dieser Sinnsuche die schwedische Sprache maßgebend beteiligt war, davon ist Fioretos überzeugt:

    "Sie fängt an zu übersetzen, auch zu einer Zeit, wo sie eigentlich die Sprache überhaupt nicht beherrschte. Aber leidenschaftlich hat sie übersetzt und sie suchte natürlich nach Texten, die ihrer eigenen Lebenserfahrung entsprachen in irgendeiner Form. Und das war zu der Zeit wirklich die schwedische moderne Lyrik, die ihren Durchbruch gerade zu dieser Zeit 42/43/44 feierte. Und sie wurde, könnte man fast sagen, von dieser Sprache auch angestochen. Auf einmal half ihr diese neue Sprache auch, eine neue historische Erfahrung in Worte zu fassen."

    Nelly Sachs übersetzt das Dreigestirn der schwedischen Moderne Gunnar Ekelöf, Erik Lindegren, Johannes Edfelt. Aber auch Texte von Edith Södergran und Karin Boye. Einige dieser Übersetzungen bezeichnet der schwedische Literaturhistoriker Bengt Holmquist als "kongenial". Er und seine Frau, die Übersetzerin Margaretha Holmquist, lernten Nelly Sachs Anfang der 1960er-Jahre in ihrer schwersten Zeit kennen. Das Trauma der Verfolgung war erneut ausgebrochen und machte verschiedene stationäre Behandlungen notwendig. Bengt Holmquist beschreibt, zu welcher Fluchtbewegung sie auf ihrem letzten Lebensweg gezwungen war:

    "Der Terror flammte mitten im Alltag auf. Es gab keine Sicherheit mehr. Ihr blieb, in einem finsteren und buchstäblichen Sinne, nur die 'Flucht in die blitztapezierten/Herbergen des Wahnsinns'. Sie musste in einer Nervenheilanstalt Schutz suchen und jahrelang dort bleiben.

    Als ich im Krankenhaus war und ich dachte, ich würde nie wieder etwas schreiben, da kam der Doktor eines Tages herein, so ungefähr nach einigen Monaten und da lag ein Blatt Papier auf meinem Tisch. Und er sagte, was ist denn das, ja, sag ich, das ist mein erstes Gedicht. Und das war 'Der versteinerte Engel'."

    Nelly Sachs
    DER VERSTEINERTE ENGEL
    noch von Erinnerung träufend
    von einem früheren Weltall
    ohne Zeit
    in der Frauenstation wandernd
    im Bernsteinlicht
    eingeschlossen mit dem Besuch einer Stimme
    vorweltlich ohne Apfelbiß
    singend im Morgenrot
    vor Wahrheit -

    Und die anderen kämmen die Harre vor Unglück
    und weinen
    wenn die Raben draußen
    ihre Schwärze entfalten zur Mitternacht.


    Nelly Sachs: "Diese Gedichte 'Noch feiert Tod das Leben', die ich in einer furchtbarsten Dunkelheit geschrieben habe, die habe ich so mit dem ganzen Dasein in jedem Wort erlitten."

    Mit welcher unglaublichen Energie und Seelenstärke Nelly Sachs den Kampf gegen das Verstummen aufnahm - Bengt Holmquist bezeichnet diesen Widerstand als die "letzte Verteidigungslinie des Menschlichen" - kann anhand der Kommentierten Werkausgabe aufs Beste nachvollzogen werden. Nach dem Inferno entstehen bis zu Nelly Sachs' Tod am 12. Mai 1970 fünf neue Gedichtzyklen. Sie zeichnen sich durch radikale Reduktionen in Bild und Sprache und durch eine neue formale Strenge aus.

    In der Werkausgabe werden diese Zyklen durch sog. "Zeitraum" - Gedichte ergänzt, die einen detaillierten Einblick in das unermüdliche Schaffen einer Dichterin geben, die im achten Lebensjahrzehnt ästhetisch den Schritt zur Moderne vollzieht.

    "Ich hoffe, dass die Ausstellung und nicht zuletzt auch die Werkausgabe das vielleicht wichtigste an der literarischen Erscheinung von Nelly Sachs zeigen werden können. Nämlich - wie kann es denn sein, dass jemand mit 50 Jahren anfängt wirklich zu schreiben und eigentlich immer nur besser wird. Ich kenne keine anderen Beispiele in der Literaturgeschichte. Und diese Nelly Sachs, glaube ich, die kennt man zu wenig. Die ist allemal wert, wieder zu entdecken."

    Nelly Sachs
    DIESE NACHT
    Ging ich eine dunkle Nebenstraße
    Um die Ecke
    Da legte sich mein Schatten
    In meinen Arm
    Dieses ermüdete Kleidungsstück
    Wollte getragen werden
    Und die Farbe Nichts sprach mich an:
    Du bist jenseits!


    Bibliografische Angaben

    Nelly Sachs: Gedichte 1940-1950. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Aris Fioretos. Bd. 1. Hrsg. von Matthias Weichelt. Suhrkamp Verlag 2010. 344 Seiten. 44 Euro.

    Nelly Sachs: Gedichte 1951-1970. Bd. 2. Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. von Ariane Huml und Matthias Weichelt. Suhrkamp Verlag 2010. 426 Seiten. 44 Euro.