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Mehr als Malen nach Zahlen

Er betreibe im Grunde nichts anderes als "Malen nach Zahlen." So beschreibt der hierzulande noch relativ unbekannte Schweizer Maler Albrecht Schnider seine Kunst, deren Ergebnisse derzeit in der Ausstellung "Am Ereignishorizont" im Berliner Haus am Waldsee zu sehen sind.

Von Carsten Probst |
    Albrecht Schniders Malerei entzieht sich, und doch ist sie in ihrer großen Klarheit wie selbstverständlich da, präsent im Raum. Ihre Eindringlichkeit entspringt aus der Präzision, mit der sie gemacht ist, und zugleich aus der Stille, die sie um sich herum erzeugt.

    Sie wirkt unbewegt, flächig, beinahe starr in ihrer Abstraktheit. Doch schon nach kurzem Hinschauen beginnen sich die einander überlagernden Formen selber zu Räumen zu öffnen. Es ist, als hätte Schnider seine Malereien als Vexierbilder angelegt, mit optischen Täuschungen, die den Blick urplötzlich dazu bringen, Räume, ja ganze Landschaften zu sehen, wo vorher nur farbige oder schwarz-weiße Flächen waren. Und vielleicht ist es das, dieses eigenartige Kippen der Wahrnehmung, das er in seiner Berliner Ausstellung als seinen malerischen "Ereignishorizont" bezeichnet.

    Ereignishorizont, das ist eigentlich ein Begriff aus der Allgemeinen Relativitätstheorie. Albert Einstein bezeichnete damit jene physikalische Grenze der Raumzeit, an dem das Licht der Anziehungskraft eines Schwarzen Loches nicht mehr widerstehen kann und somit alles unsichtbar wird, was jenseits dieses Horizonts liegt. Zwar geht es bei Albrecht Schniders Malerei nicht direkt um Schwarze Löcher - aber das Auf- und wider Zudecken von vormals Unsichtbarem in seinen Bildern ist natürlich trotzdem ein physikalischer Prozess, hergestellt mit den Regeln der Optik und der Farbe.

    Schnider, 1958 im schweizerischen Luzern geboren, ausgebildet an der Schule für Gestaltung der Universität Bern, verfolgt in seinen Bildern seit jeher eine ebenso zarte, poetische wie kühle und experimentelle Strategie, die sich oft aus mathematischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten ableitet. Er selbst sagt von sich: "Ich betreibe im Grunde nichts anderes als Malen nach Zahlen. Jeder könnte diese Bilder ebenso malen wie ich." Gemeint ist, dass Schniders Malerei nicht malerisch wirkt, sie hat keinen Duktus aus Pinselschwüngen und spontanen Farbmischungen, sondern besteht im Wesentlichen aus vorgezeichneten, oft geschwungenen oder gezackten Farbfeldern, die dann nur ebenmäßig ausgefüllt werden.

    Das klingt simpel, doch natürlich ist die Formfindung und Komposition der Farbflächen etwas, das nicht jedem so gelingen würde. Schniders Methode beinhaltet auch ein irrationales, zufälliges Moment. In der Tradition des Automatischen Zeichnens der Surrealisten entwirft er seine Formkompositionen nicht selten in einem Dämmerzustand. Die besten Zeichnungen gelängen ihm, wenn er müde sei, sagt er. So entsteht immer wieder eine riesige Menge an gezeichneten Blättern mit geschwungenen Linien oder eckigen Formen, von denen Schnider aber nur den kleinsten Teil aufbewahrt, die zufällig eine besondere innere Schlüssigkeit aufweisen. Diese nimmt er als Vorbilder für seine Malereien.

    Die Wirkung ist beeindruckend. Auf den ersten Blick scheinen diese Malereien einer anderen Zeit zu entstammen, der Abstraktion der späten fünfziger bis sechziger Jahre. Unwillkürlich denkt man vielleicht an Max Bill und die schweizerische Tradition der konkreten Kunst mit ihrer betont emotionslosen Brillanz. Vielen fühlen sich an Ernst Wilhelm Nay oder auch an Norbert Kricke erinnert, den berühmten Gegenspieler von Joseph Beuys in Düsseldorf, der sich einst zum Sachwalter der informellen Moderne gemacht hatte.

    Doch Albrecht Schnider betreibt keine Retro-Kunst, auch wenn sein Kunst-Begriff vielleicht "alte Schule" sein mag. Im Grunde betreibt er eine Kunst, die den Prinzipien der Gestaltung, die er in seiner Ausbildung erlernt hat, genau entgegengesetzt ist. Eine Kunst, die ihre eigene Realität erzeugt, nicht durch spektakuläre Effekte, sondern durch eine langsame, fast meditative Veränderung der Wahrnehmung. Schnider, der seit zwölf Jahren im lauten Berlin lebt, gehört damit zu den leisen, philosophisch verschmitzten Künstlern, die, von Moden unbeeindruckt, eine völlig eigene Handschrift entwickelt haben, an der man ihre Bilder stets wiedererkennt und sich an sie erinnert.

    Die Ausstellung "Am Ereignishorizont" ist noch bis zum 19. Juni im Berliner Haus am Waldsee zu sehen.