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Mehr als Strandsouvenirs

Was Touristen als Souvenir vom Ostseestrand mitnehmen, erzählt nicht nur von schönen Urlaubstagen, sondern von vergangenen Jahrtausenden: Steine.

Von Christiane Zwick |
    "Der ist ein bisschen lädiert, aber dafür sieht man schön die Schale. Das sieht ja toll aus."

    Ein Parkplatz am Steilufer nahe Boltenhagen: Die blaue Ostsee glitzert in der Morgensonne - und wird kaum eines Blickes gewürdigt. 15 Norddeutsche in Karohemden und Wanderschuhen richten ihre Augen auf den Boden, bücken sich zwischen die Autos und erliegen dem geologischen Reiz des Parkplatzbelags: Kiesel groß und klein.

    "Das ist ein Rhombenporphyr. Das ist Lava, Lavadecken. Und die stammen aus dem Perm."

    Die Exkursion hat schon begonnen. Unter der Leitung der Diplomgeologin Evelyn Hincke begeben sich Studierende der Uni Kiel, Amateursammler und Fossilienfans auf die Spur der Steine. Der Klützer Winkel gilt als geologisches Eldorado.

    "Auf dem Parkplatz sind schon erste Funde gemacht worden. Obwohl wir noch gar nicht richtig angefangen haben, zu suchen, am Strand. Was man hier sehen kann, ist ein Sandstein, geschichtet, aufgebaut, Lage auf Lage. Und hier haben wir Spuren drin, Kriechgänge, von Organismen, die mehr als 500 Millionen Jahre alt sind."

    Die Exkursionsleiterin deutet auf dunkle Linien im rötlichen Stein und ist bereits mitten im Thema des Tages: Versteinerungen und Leitgeschiebe an der mecklenburgischen Küste. Ihre Gruppe wird sich also den Steinen widmen, die im Eis der großen Gletscher aus Skandinavien zu uns nach Süden reisten. Was Ostseeurlauber als Strandsouvenir einstecken, soll heute auf Herkunft, Geschichte und urzeitliche Lebewesen abgeklopft werden; natürlich mit dem richtigen Werkzeug.

    "Eine Lupe, so eine Zehnfach-Lupe, damit man sie von Dichtem sehen kann, wie die Struktur ist, Hammer, Papier zum Einwickeln, so kleine Döschen. Ich hab die von den Überraschungseiern immer."

    Mit interessanten Funden rechnen alle. Eigentlich ist es fast unmöglich, nichts zu finden, meint die Rentnerin Margret Timm, während sie dem alten Militärweg Richtung Strand folgt und ihre Begeisterung für die harten Fakten der Erdgeschichte erklärt.

    "Die Steine zeigen ja eine Welt in sich. Also, wenn man Langeweile hat: Lupe nehmen, Stein angucken. Da ist die ganze Erde drin zu sehen, so hab ich das Gefühl. Und das finde ich so toll. Haben Sie mal einen Stein durch die Lupe beguckt? Wenn da Kristalle drin sind, das sind Reichtümer. Man braucht keine Juwelen mehr und keine Brillanten. Es ist alles in einem Stein drin."

    Zunächst einmal stinkt es nach Verwesung. Grüne und braune Algen bedecken weite Teile dieses Strandabschnitts. Der Sturm der letzten Nacht hat sie angeschwemmt. Die geologische Reiseleiterin wendet sich von dem Schlamassel ab und dem Steilufer zu. In der sandigen Abbruchkante nisten Schwalben, Sanddorn wurzelt im rutschigen Hang.

    "Diese Wand hier hinter uns besteht aus einem tonigen Material. Ich hab einen Brocken mal hier aus der Wand geholt. Das bröselt, wenn man es in die Hand nimmt. Und in diesem tonigen Material, das bearbeiten wir einmal mit Salzsäure, ist ein bisschen Kalk drin, das braust. Das ist Nachweis, dass wir toniges Material mit Kalkanteil haben. Solches Gestein wird Geschiebemergel genannt und ist das Material, was der Gletscher abgesetzt hat bei seinem Rücktauen."

    Und nach dem Rückzug des letzten Gletschers, vor etwa 12.000 Jahren, blieb dann der erwähnte Schmutz zurück. Größere Brocken fallen meist nach Regengüssen aus der Wand des Steilufers. Darin enthalten:

    "Seeigel, Donnerkeile - Belemniten, Pflanzenreste sind relativ selten. Wenn man Glück hat, findet man in Kalkstein Trilobiten, Trilobitenreste. Dann hat man lose im Strand kleine Schwämme, kugelrund, kleine Korallen."

    Könnte man die letzten 500 Jahrmillionen im Zeitraffer ablaufen lassen, wäre diese Landschaft in heftiger Bewegung. Sie würde sich heben und senken. Das warme Meer des Kambriums wich im Devon einer roten Wüste. Im Karbon wuchsen Urwälder im Ostseeraum. Später zogen Steinzeitjäger über das Eis. Ihren Fährten folgt Bernhard Thiessen, von Beruf Pastor, in der Freizeit Sammler.

    "Ich finde das faszinierend, im Jahr 2009 an einem Strand zu laufen, einen Stein in die Hand zu nehmen und dabei zu merken: Das hat ein Mensch vor 5000 Jahren in der Hand gehabt, hat da draufgehauen, hat damit irgendwas bearbeitet, hat das vielleicht weggeschmissen oder aus einem anderen Grund kam das hier wieder an. Das ist, als ob man nach 5000 Jahren Geschichten an einem gleichen Punkt wieder ist."

    Hier sind endlich wieder mehr Steine als Algen zu sehen. In der Mehrzahl: Feuersteine. Glatt und von transparentem Schwarz, oft mit weißer Kruste bilden sie dekorative, skulpturenähnliche Formen. Als Lochsteine sollen sie Glück bringen. Beides macht sie zu einem beliebten Mitbringsel. Auch unter Amateurgeologen haben sie ihre Fans, bergen manche Flintsteine doch Fossilien. Das Mineral ist nämlich organischen Ursprungs. Kieselsäurehaltige Reste abgestorbener Lebewesen verwandelten sich in ein halbfestes Gel, das zu Siliziumdioxid auskristallisierte. Wenn man eine Knolle aufschlägt, fliegen einem allerdings scharfe Splitter um die Ohren. Einer riskiert verbotenerweise trotzdem einen Blick hinein.

    "Pst, nicht verraten. Hab es ganz dezent gemacht. Der klang so ein bisschen hohl. Deshalb habe ich ihn ein bisschen bearbeitet. Man soll es nicht tut. Sehen Sie, wie scharfkantig das ist? Das ist messerscharf, wie Glas. Da ist was drin. Da ist mit Sicherheit was drin. In diesen Einbuchtungen, da steckt überall was drin. Oder hier zum Beispiel. Könnte ein Seeigel sein, der ein bisschen gequetscht worden ist."

    Leicht haben es die Exkursionsteilnehmer nicht. Viele Steine versprechen mehr, als sie halten und manches Fossil kommt auf den ersten Blick ganz unscheinbar daher. Blasenartigen Strukturen können von urzeitlichen Schwämmen stammen, versteinerte Muschelränder können wie abgeschnittene Fingernägel aussehen. Margret Timm nimmt ein graues Schwergewicht unter die Lupe.

    "Ich sehe da halbrunde Abdrücke, die aber wahrscheinlich vom Hammer oder sowas stammen. Wie ich den Laden hier kenne.

    "Da kann ich nur sagen: nein! Diesmal ist es tatsächlich ein echtes Fossil. Das ist ein Stück eines fossilen Tintenfisches. Und man sieht hier seine Luftkammern und einen Hautschlauch, der die Luftkammern verbunden hat. Damit konnte er seine Tauchtiefe regeln. Der ist leider nur fünf Zentimeter hier drauf. Den gibt es bis mehrere Meter."

    "Wenn Sie Fossilien suchen, dann sollten sie sich nur um Sandsteine oder Kalke kümmern und sie erkennen das zum einen daran, dass diese Steine geschichtet sind und Sie sehen es an den Farben. Es sind fast immer helle Gesteine. Der Hintergrund ist der: Die Ablagerung findet im Wasser statt, manchmal auch an Land, aber im Wasser sind die Bedingungen besser. Sie haben einen Kalkschlamm oder einen Ton oder Sand auf dem Meeresboden und die toten Tiere sinken runter, die dann zugedeckt werden. Sobald der Sauerstoff abgeschlossen ist, sobald da kein Sauerstoff rankommt, sind die Erhaltungsbedingungen generell gut."

    Und zwar nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Spuren, die sie im Meeresboden hinterlassen haben. Das scheinbar Vergänglichste überhaupt, die Kriechspur einer Schnecke, kann sich über 500 Millionen Jahre erhalten haben. Auch das sind Fossilien, denen es vielleicht ein wenig an Glamour mangelt.

    "Das sind halt diese Wurmgänge. Die sieht man in diesem Stein ganz besonders schön, weil das einfach in die ganz klare Richtung geht. Und von oben, wo die Würmer sozusagen rein sind, in ihren Wurmgang, kann man hier ganz schön sehen. Im Moment habe ich anscheinend den Blick für Wurmgänge, weil ich schon den dritten Wurmgangstein gefunden habe."

    Außer den Wurmgängen liegt schon ein Rhombenporphyr aus dem Oslograben im Rucksack; ein Magnetit, rosafarbene Granite aus Småland und natürlich Feuersteine. Auch Margret Timm hat bereits schwer zu schleppen. Sie ist zufrieden. Für sie haben Steine neue Dimensionen gewonnen und auch etwas Beruhigendes.

    "Ursprünglich habe ich gedacht, Steine sind was Ewiges, ewig beständig, man kann sich drauf verlassen, Fels in der Brandung. Und dann fing ich an, Näheres über Steine zu lernen, dass sie genauso kommen und gehen und sich verändern wie wir auch, nur eben bisschen langsamer."