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Mehr als zeitgeschichtliche Nachhilfe

Helmut Schmidt, der Staatsmann a.D., zielte nie darauf ab, besonders beliebt zu sein. Und doch sind die Bundesbürger heute der Meinung, dass kein Bundeskanzler vor und nach ihm Deutschland ein besseres Ansehen in der Welt verschafft habe. Auch deshalb dürfte die Schmidt-Biographie aus der Feder des ehemaligen Spiegel-Autors Hans-Joachim Noack seine Leser finden.

Von Rainer Burchardt |
    "Ich habe nur die Absicht, drei Sätze zu reden, und ich bitte, mich ausreden zu lassen. Noch habe ich das Recht hier zu reden!"
    Helmut Schmidt in einer seiner wohl schwersten politischen Stunden am 1. Oktober 1982 vor dem Deutschen Bundestag. Seine Abwahl als Bundeskanzler steht unmittelbar bevor. Union und FDP werden ihn gemeinsam mit einem konstruktiven Misstrauensvotum stürzen. Der bisherige Oppositionsführer Helmut Kohl, CDU, wird Schmidts Nachfolger. Damit geht eine 16 jährige Regierungszeit der Sozialdemokratie im Nachkriegsdeutschland zu Ende, zunächst von 1966 bis 1969 als Juniorpartner in einer großen Koalition der Regierung Kiesinger/Brandt und dann die sozialliberale Ära mit den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Schmidt fühlte sich seinerzeit von der FDP verraten, die seit der Bundestagswahl 1980 mit 10,6 Prozent übermütig geworden war und dem Kanzler das Regieren schwerer gemacht hatte. Höhepunkt war das von Schmidt als Scheidungsurkunde bewertete sogenannte Lambsdorf-Papier aus dem Sommer 1982 das mit wirtschafts- und sozialpolitischen Thesen aus dem Arsenal des Marktliberalismus von der SPD als eine gezielte Provokation aufgefasst wurde.
    Bevor es zu der von Schmidt beabsichtigten Entlassung der drei FDP-Minister kam, traten Genscher, Lambsdorff und Ertl Mitte September selbst zurück. Die damalige tiefe Enttäuschung, ja Verbitterung Schmidts schildert Hans Joachim Noack so:

    Die nach schweren inneren Zerreißproben sichtlich derangierte FDP bringt am 1. Oktober 1982 gerade noch die Kraft zum Umsturz auf. Als Bundestagspräsident Richard Stücklen das Ergebnis des konstruktiven Misstrauensvotums verkündet, sitzt der abgewählte Kanzler minutenlang regungslos auf seinem Platz. Beim Abschied von der Fraktion überreicht ihm Herbert Wehner einen Strauß roter Rosen.
    Trotz der Aufforderung von Parteifreunden tritt Schmidt zur Bundestagswahl im März 1983 nicht erneut an, sondern überlässt die Kandidatur Hans Jochen Vogel, der jedoch gegen Helmut Kohl unterliegt. Damit ist die von schwarz-gelb auf höchst fragwürdige Weise organisierte Wende demokratisch legitimiert und perfekt. Die Rolle der FDP wertet Schmidt vor dem Parlament mit den Worten:

    "Zur Glaubwürdigkeit der Demokratie gehört der Wechsel der Regierungen. Deshalb beklage ich mich nicht, wenn die sozialliberale Bundesregierung ihre Verantwortung abgeben muss. Was ich jedoch beklage, ist der Mangel an Glaubwürdigkeit dieses Wechsels und dieser Art des Regierungswechsels."
    Eine für Schmidt typische Diktion: Brillant formuliert und pointiert vorgetragen. Sein Markenzeichen, das ihm schon Jahrzehnte zuvor den Spitznamen "Schmidt-Schnauze" eingetragen hatte. Der zweite Weltkrieg-Hauptmann galt während seines politischen Lebens als "Macher", der bisweilen auch nicht vor verbal verletzenden Attacken auf den politischen Gegner zurückschreckte. Dazu gehörten auch manchmal unerträgliche Belehrungen, die ihm nicht immer zu Unrecht als Arroganz ausgelegt wurden. Doch bei der Überwindung des persönlichen Traumas im Dritten Reich war ihm zur Absicherung demokratischer Prinzipien fast jedes Mittel Recht. Im Vorwort schreibt Noack dazu:

    So verdichtet sich die Entwicklungsgeschichte des Landes in der Entwicklungsgeschichte einer Person. Im "Dritten Reich" die totale Verführbarkeit und danach die emsige Bereitschaft, die Demokratie erlernen zu wollen. Später ein weltweit gerühmter wirtschaftlicher Erfolg, aber auch die Neigung, die Vergangenheit so zu bewältigen, dass sie das prosperierende Gemeinwesen nicht lähmte. Und schließlich, als Ergebnis langjährigen Wohlverhaltens, die Rückgewinnung uneingeschränkter staatlicher Souveränität, die den Deutschen allerdings erst nach Schmidts Ära gelang.
    Konsequent beschreibt Noack solchermaßen mit der nötigen Mischung aus persönlicher Nähe und analysierender Distanz den für die Kriegsgeneration so typischen Lebensweg eines Menschen, der der Verführung erlag und dies durch demokratisches Engagement bewältigen wollte. Nicht typisch ist natürlich die brillante Karriere des Helmut Schmidt, der als Hamburger Innensenator zum Helden der Jahrhundertflut im Februar 1962 wurde, als er mit forscher Kompetenzüberschreitung das Krisenkommando an sich riss. Der später als Parlamentarier, Minister und Kanzler bis hin zur gesundheitlichen Aufopferung das durchzusetzen versuchte, was er für richtig hielt. Der noch heute an dem Trauma des deutschen Herbstes leidet, als er den entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer aus Gründen der Staatsraison opfern musste und der schließlich von den eigenen Genossen im Stich gelassen wurde, als er den so genannten NATO - Doppelbeschluss zur Nachrüstung des Westens bei gleichzeitiger Verhandlungsbereitschaft mit den Sowjets durchsetzen wollte.
    Sein weltweit hohes Ansehen auch als exzellenter Ökonom mag dazu beigetragen haben, dass er seine Macht vielleicht ein wenig überschätzte. Seinen schärfsten Kritikern wie Erhard Eppler und später Oskar Lafontaine hat er nie verzeihen können. Sein aktueller Vergleich des Linken aus dem Saarland mit Hitler, ist gleichermaßen verräterisch wie töricht. Aber so ist Schmidt eben, der sich auch das öffentliche Rauchen nicht verbieten lassen wollte. Ein Vorbild mit durchaus selbstherrlichen Ecken und Kanten. Diese persönlichen Analysen kommen bei Noack eindeutig zu kurz. Erst im letzten Kapitel versucht er etwas genauer die Motive zu ergründen, die Schmidt bis auf den heutigen Tag dazu bringen, eine persona publica, eine öffentliche Person bleiben zu wollen. Regelmäßig meldet er sich als Mitherausgeber der Wochenzeitung die Zeit zu Wort, ermahnt, belehrt und informiert seine Nachfolger darüber, wie sie was richtig machen sollten. Selbst US-Präsidenten wie Jimmy Carter wurden einst von der latenten Überheblichkeit des deutschen Kanzlers nicht verschont. Im Versuch eines Kurzpsychogramms heißt es dazu bei Noack:

    Um seinen Nachruhm muss er sich kaum sorgen, und dennoch wirkt er in regelmäßigen Abständen seltsam unzufrieden. Gereizt stochert der Publizist dann in seinem Herausgeberbüro in Einzelheiten herum, die ihm aus der heißen Phase des Koalitionsbruchs im Gedächtnis geblieben sind, als läge das Drama erst wenige Wochen zurück. Was könne er dafür, wehrt er sich unvermittelt gegen Vorwürde, die niemand erhoben hat, dass man es zum Beispiel mit diesem Herrn Genscher zu tun hatte. Bei dem ... habe er leider nie so richtig gewusst, dass es da nicht noch die eine oder andere Tapetentür gab, durch die er hindurchging.
    So also schließt sich der Kreis eines Politikerlebens mit all den Höhen und Tiefen, die dazugehören. Noack ist es gelungen, diese politischen und persönlichen Zusammenhänge einer großen Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte aufzuzeigen. Das ist mehr als nur zeitgeschichtliche Nachhilfe.

    Rainer Burchardt besprach das Buch von Hans-Joachim Noack: Helmut Schmidt. Die Biographie. Erschienen im Rowohlt Verlag, 320 Seiten zum Preis von Euro 19,90.