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Mehr Freiheitsräuber als Heilsbringer

Anfangs als karitative Hilfe gedacht, haben sich Mikrokredite zu einem veritablen Finanzmarkt entwickelt. Großbanken wie Citigroup und die Deutsche Bank verdienen bereits mit. Soziologen bezweifeln inzwischen, dass die Kleinkredite armen Menschen wirklich helfen.

Von Mirko Smiljanic | 15.08.2013
    Der Deutsche Studienpreis ist mit 30.000 Euro finanziell ordentlich ausgestattet. Viel Geld für den jungen Kölner Soziologen Philip Mader, gigantisch viel für Menschen, deren ökonomisches Leben er seit mehreren Jahren untersucht: Die Ärmsten der Armen in Bangladesch und Indien, Bolivien und Ghana bekommen aus westlicher Perspektive gesehen tatsächlich Mikrokredite für den Kauf eines Fahrrades oder einer Nähmaschine: 50 Euro sind keine Seltenheit. Doch da beginnen die ersten Unstimmigkeiten.

    "Wir müssen uns auch mal klarmachen, 50 Euro sind für eine Frau in Bangladesch sehr, sehr viel Geld, die verschuldet sich eventuell so hoch wie unsereins, wenn wir einen Kredit über zehn- oder zwanzigtausend Euro aufnehmen würden, das ist manchmal ein Jahreseinkommen dort, …"

    … sagt Philip Mader, Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Der Begriff "Mikrokredit" suggeriert Überschaubarkeit; überschaubar ist er aber nur für den Kreditgeber, für die Kreditnehmer sind es hohe Investitionen, die zurückzuzahlen sehr viel Mühe machen.

    "Die Leute arbeiten oft 12, 14 Stunden am Tag und versuchen eben irgendwas reinzu-holen, damit sie diesen Kredit wieder abbezahlen können. Die müssen den aber natürlich mit Zinsen abbezahlen. Also auf die 50 Euro, die sie sich geliehen haben, kommen gerne noch mal 25 oder 50 Euro gerne drauf, die sie an den Verleiher zahlen müssen."

    Zinssätze von bis zu 200 Prozent sind durchaus realistisch. "Wucher" mag da mancher denken, unethische Wirtschaftsweise, die mit den ursprünglichen Zielen der Mikrokredite nichts zu tun hat. Tatsächlich haben in den Anfangstagen vor allem karitative Einrichtun-gen und Nichtregierungsorganisationen die Kredite verliehen, Banken kamen erst später hinzu.

    "In diesem Mikrofinanzinvestmentbereich sind die Weltmarktführer die Citigroup und die Deutsche Bank, meistens durch ihre amerikanischen Tochterfirmen. Die vielen kleine-ren Mikrofinanzinvestmentfonds, die es auch gibt, die diese Investitionen in diese Mikrofinanzbanken tun, die sitzen meistens in Steueroasen wie Luxemburg oder auf den Kanalinseln."

    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Selbstlose Entwicklungshilfe einzig dem Ziel verpflichtet, Armut zu bekämpfen? Nein, das zählt nicht zu den Geschäftsmodellen einer Bank. Die wollen Geld verdienen. Bleiben wir aber zunächst bei den Kreditnehmern. Erreichen sie das angestrebte Ziel? Können sie sich aus der Armut befreien? Nein, sagt Philip Mader, Mikrokredite produzieren ja zunächst einmal Konkurrenz.

    "Die Leute machen das schon hundertfach in jeder Kleinstadt, dass sie Gemüse verkaufen am Straßenrand, dass sie gegen geringe Bezahlung Kleider nähen und so weiter, und wenn da jetzt neue Leute eindringen in diesen Markt mit Mikrokrediten, also schuldenfinanziert, dann treiben sie für alle die Preise runter und am Ende steht keiner netto gesehen besser da, …"

    … was zwei Effekte nach sich zieht: Erstens bleiben die Kreditnehmer arm; zweitens kön-nen viele das Geld nicht zurückzahlen. Vor allem der zweite Punkt, sagt Mader, sei ein Tabuthema der Mikrofinanzindustrie, die sich im Übrigen hinter erstaunlich guten Zahlen verbirgt. Die Rückzahlungsquote der Mikrokredite liegt bei rund 99 Prozent – kein Wunder, wenn man weiß, wie säumige Schuldner zu Räson gebracht werden.

    "Also es gibt viele berichtete Fälle aus Bangladesch, dass Nachbarn, teilweise auch Familienmitglieder, die auch in derselben Kreditnehmergruppe mit drin waren, das Haus von jemandem, der nicht zurückzahlen konnte oder wollte, abgerissen haben, und das Dach und die Teile und die Töpfe verkauft haben, und die Leute standen natürlich ganz schlecht da, denn sie haben nicht nur ihr Haus und ihr Hab und Gut verloren, sondern auch ihre sozialen Beziehungen."

    Was anfangs als karitative Hilfe gedacht war, hat sich mittlerweile zu einem veritablen Finanzmarkt entwickelt. Weltweit 90 Milliarden Dollar Mikrokredite sind derzeit im Umlauf. Verglichen mit dem globalen Derivatehandel, der in die Billionen geht, mag das zwar verschwindend gering sein, zwei andere Zahlen zeigen aber die wahre Bedeutung: Weltweit gibt es 200 Millionen Kreditnehmer, inklusive Familienmitglieder stecken rund eine Milliarde Menschen gegenüber der Mikrofinanzindustrie in der Kreide. Imposant sind zudem die Gewinne. 2010 wurden 70 Milliarden Euro an Mikrokrediten verliehen, der Zinsgewinn lag dabei bei 20 Milliarden Dollar. Ein lukratives Geschäft, das im Zuge der Finanzkrise auch in Europa eine immer größere Bedeutung gewinnt. Im Visier der Banken sind Länder, …

    "… wo es also wirtschaftlich abwärtsgeht und die Gläubiger trotzdem darauf beharren, dass Austeritätspolitik umgesetzt, dass der Staat sich zurückziehen muss und erst einmal die Schulden begleichen muss, bevor er sich um die eigene Bevölkerung kümmert. Und da sind Mikrokredite ein ganz praktischer Lückenbüßer, um Leute, die ihre Beschäftigung verloren haben, die kein Einkommen mehr haben, beschäftigt zu halten, sie vielleicht nicht mit Almosen abzuspeisen, aber mit einem Kredit, der sie vielleicht zu einem Kioskbesitzer, zu einem Fahrradtaxibesitzer machen wird."

    In Deutschland gab es Vergleichbares während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders: Wenn nichts mehr ging, machten Arbeitslose eine "Ich-AG" auf. Ein Konzept, das sich nicht bewährt hat. Mikrokredite, sagt der Kölner Soziologe Philip Mader, hätten aber noch eine tiefer gehende Wirkung.

    "In meiner Dissertation habe ich die These aufgestellt, dass Mikrokredite zur Finanzalisierung der Armut führen. Das bedeutet, aus der Armut, die in der Dritten Welt im globalen Süden existiert, wird ein Finanzmarkt geschaffen. Die Tatsache, dass jemand arm ist, wird Basis für ein Finanzprodukt, wir können hier in eine Mikrofinanzbank investieren, die vergibt dann in Bangladesch, in Bolivien, in Ghana einen Mikrokredit, so wird der Finanzmarkt ausgeweitet und so springt für jeden eine Rendite dabei raus."

    Philip Mader macht auf ein eklatantes Problem aufmerksam: In den vergangenen 30 Jahren hat noch niemand den Nachweis erbracht, dass Mikrokredite Armut auf breiter Basis lindern. Dass es auch anders geht, zeigt übrigens das Beispiel Südkorea.

    "Südkorea war Anfang der 50er Jahre eines der ärmsten Länder auf der ganzen Welt. Und sie haben nicht gesagt, wir brauchen viele Kleinunternehmen, damit die Leute sich individuell unternehmerisch aus der Armut herausarbeiten können. Stattdessen hat der Staat eine Führungsrolle übernommen und hat angefangen, Industrie zu fördern. Samsung war über 30 Jahre unprofitabel, es hat Geld verloren und der südkoreanische Staat hat Geld reingesteckt. Heute ist Samsung Weltmarktführer nicht nur bei Smartphones, und diese Art von langfristiger Entwicklungspolitik wird heute gar nicht mehr betrieben, und ist vielleicht auch – man hat manchmal den Eindruck – von westlichen Ländern gar nicht erwünscht. Stattdessen fördert man solche vereinzelnden Mikrokredite, die die Leute in Konkurrenz zueinander bringen, statt in Konkurrenz mit uns!"