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Mehr Gene für das Überleben

Biologie. - Die Zerstörung ihres traditionellen Lebensraums hat dazu geführt, dass immer mehr Tier- und Pflanzenarten in kleinen isolierten Populationen leben. Eine Nebenwirkung: Dort nimmt auch die Inzucht zu, mit verhängnisvollen Folgen, wie neuere Studien belegen. Denn aufgrund fehlender genetischer Vielfalt haben die kleinen Populationen schädlichen Umwelteinflüssen nur wenig entgegenzusetzen.

Von Monika Seynsche |
    Mandarte Island ist nicht mehr als ein Fels im Meer vor der kanadischen Westküste: 600 Meter lang und 100 Meter breit. Und trotzdem ist es ein Forscherparadies. Denn auf Mandarte Island lebt eine kleine isolierte Gruppe von Singammern, die seit 1975 unter strengster Beobachtung stehen: Die Forscher wissen genau, welcher Vogel sich mit wem paart und wer wessen Nachwuchs ist. Für einige Tiere kennen die Wissenschaftler den Stammbaum der letzten 30 Generationen. Auf der Insel leben so wenige Singammern, dass sich hin und wieder unweigerlich Bruder und Schwester oder Cousin und Cousine verpaaren. Und welche Auswirkungen diese Inzucht hat, das untersucht der Genetiker Lukas Keller von der Universität Zürich:

    " Wir haben zuerst gefunden, dass es das Überleben stark beeinflusst- Wir haben also bis zu 20, 30 Prozent Reduktion in der jährlichen Überlebenswahrscheinlichkeit. Das ist ziemlich viel. Vor allem reduziert es das auch in Perioden, wo das Überleben sowieso schon schlecht ist, weil zum Beispiel ein starker Wintersturm durch die Gegend kommt. Dann hat es auch noch stärkeren Effekt auf die Fortpflanzungsleistung. Also ingezüchtete Vögel, Singammern auf Mandarte, haben nur etwa die Hälfte der Anzahl Nachkommen, die normale Singammern, wenn wir das so nennen wollen: ausgezüchtete Singammern haben. "

    Je öfter miteinander verwandte Vögel sich untereinander paaren, desto ähnlicher werden die Tiere einander, desto stärker nimmt also die genetische Vielfalt in der Population ab. Dadurch kommt es vor dass schädliche Mutationen genetisch nicht mehr ausgeglichen werden können und Krankheiten verursachen. Außerdem kann eine geringe genetische Vielfalt verhängnisvoll sein, wenn zum Beispiel plötzlich ein neuer Fressfeind auftaucht. Denn dann haben die Tiere einen Vorteil, die dem Feind am besten aus dem Weg gehen können und dadurch sichern sie das Überleben der Art. Wenn aber alle gleich sind, haben entweder alle Glück oder alle Pech.

    Naturschutzgenetiker wie Gernot Segelbacher vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell suchen zurzeit gezielt nach Genen, an denen sie die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Population ablesen können:

    " Es geht zum Beispiel um den MHC-Komplex. Das ist ein Komplex, ein Genkomplex, der für die Immunabwehr wichtig ist. Und der hat natürlich beim Auftreten von möglichen Krankheiten einfach direkte Resistenzfunktion. "

    Je weniger Varianten es von diesem Komplex in der Population gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppe bestimmte Krankheiten überstehen kann.

    " Und das ist eigentlich auch das Fiese an der Inzucht, wenn sie so wollen, weil sie eben auch dann noch aktiv ist, wenn man die direkte Bedrohung einer Tierart stoppen kann. In der Regel werden die Tierpopulationen ja nicht klein, weil Inzucht ein Problem ist, sondern sie werden klein aufgrund von anthropogenen Einflüssen, sei das zu starke Bejagung, sei das, dass es Unfälle gibt, dass die Umweltverschmutzung dazu führt oder ganz einfach und wahrscheinlich am häufigsten, dass das Habitat verschwindet, weil wir etwas dort bauen. "

    Selbst wenn die akute Gefahr beseitigt ist, sterben viele Arten aus, weil die genetische Vielfalt zu gering ist. Deshalb suchen Lukas Keller und seine Kollegen nach Wegen, Populationen möglichst schnell wieder zu vergrößern und gleichzeitig möglichst viel genetische Variation in die Population zu bringen.

    Dabei helfen die Ergebnisse von Mandarte Island. Denn dort können die Forscher die negativen Effekte der Inzucht studieren, ohne eingreifen zu müssen, denn auch wenn die Population auf der Insel klein ist, die Singammer ist als Art in Nordamerika noch weit verbreitet.