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Mehr Störche als Einwohner

Der Nationalpark Lonjsko Polje rund um das europäische Storchendorf Cigoc gilt als einzigartiges Vogelparadies. Doch die Touristenströme zieht es an die Küste, ins Grenzgebiet zu Bosnien - 100 Kilometer hinter Zagreb - verirren sich nur wenige.

Von Alois Berger |
    "Ich bring die Kühe auf die Weide", sagt Bauer Zlavko, was sonst? Zlavko hat heute keine Lust zu reden. Wie jeden Morgen treibt er seine fünf Hellbraunen hinüber auf die Schwemmwiesen von Lonskjo Polje.

    Am frühen Morgen kann man in Cigoc nie ganz sicher sein, ob das 20. Jahrhundert schon angefangen hat. Vom 21. ganz zu schweigen. Später, am Vormittag, kommt schon mal ein Auto vorbei, auf dem Weg in die nächste Stadt. In Cigoc gibt es nicht mal einen Laden.

    50 Häuser in bunten Blumengärten, alle sauber aufgereiht entlang der Straße. Die meisten von ihnen haben schon bessere Zeiten gesehen, keine richtig guten, aber bessere. Verwitterte Holzläden hängen schief an verwitterten Holzhäusern. Auf jedem Haus sind mindestens zwei Storchennester, auf manchen sogar vier. Auch die Störche werden erst jetzt langsam wach.

    Cigoc hat weit mehr Störche als Einwohner. Im Sommer, wenn die Jungen geschlüpft sind, sind es um die 250 Weißstörche, die auf den Dächern herumstolzieren, zwischendurch rüber zu den Schwemmwiesen fliegen, zum Fröschefangen. Später landen sie mit ausgebreiteten Schwingen wieder auf den Holzhäusern von Cigoc. Jetzt, im September sind die meisten Störche schon weg, unterwegs nach Afrika. Aber im April kommen sie alle wieder, wie jedes Jahr.

    "Die haben sich Cigoc ausgesucht, weil Cigoc im Nationalpark Lonskjo Polje liegt. Und Lonsko Polje ist ein großes Sumpf- und Überschwemmungsgebiet. Hier findet man sehr viele Frösche, viele Fische, viele Schlangen, das mögen die Störche. Und die Gegend ist auch schön und kaum besiedelt. Störche mögen es nicht, wenn alles zugebaut ist und wenn recht viel Trubel ist und sie gestört werden."

    Für Mladen Baric sind die Störche immer noch etwas Besonderes. Er hat in seinem Garten sogar ein Fernrohr aufgestellt, um sie beim Brüten und beim Fliegen beobachten zu können. Auf die Idee wäre in Cigoc sonst niemand gekommen:

    "Die Leute sind an die Störche gewöhnt, sie mögen die Störche, sie wollen, dass die Störche bleiben. Die sind Teil der Dorfgemeinschaft."

    Mladen Baric ist mit seiner Familie vor 15 Jahren aus Bosnien ins benachbarte Kroatien geflohen. Die Eltern und die zwei Kinder kamen nach Cigoc, und sie sind geblieben. Die vielen Störche, das war für sie etwas Neues. Vor fünf Jahren haben die Barics sich einen Traum erfüllt und ein 200 Jahre altes, verfallenes Holzhaus renoviert: Drei Zimmer unterm Dach vermieten sie und einen großen Raum für Rucksacktouristen. Die Pension muss klein bleiben, erklärt Mladen.

    "Wenn man diesen Platz in ein Touristenziel verwandelt, dann werden sehr viele Menschen kommen und die Störche mögen es gar nicht, wenn zu viel Trubel ist."
    Danach sieht es bisher nicht aus. Die drei schön hergerichteten Zimmer sind selten ausgebucht, und die anderen Menschen im Dorf haben mit Tourismus nichts am Hut. Die meisten hier sind alt, die Jungen sind weggezogen.
    "Das einzige, was man hier machen kann, ist Schweine, Pferde und andere Tiere zu halten. Aber das ist für junge Menschen nicht unbedingt das, was sie machen wollen. Deshalb gehen die Jungen meist in die umliegenden Städte und die Häuser stehen leer und verfallen."

    Das Haus, das Mladen und sein Vater hergerichtet haben, stand ursprünglich in einem Nachbardorf. Balken für Balken haben sie es dort abgetragen und in Cigoc wieder zusammengebaut.

    "Das Typische an diesem Haus ist, dass es fast komplett aus Holz ist und das Besondere ist, dass die Treppe in den oberen Stock innen gebaut ist."

    Bei allen anderen Häusern in Cigoc geht man über Außentreppen in die oberen Stockwerke. Anders hätte man früher nicht wohnen können in diesem Dorf in der Save-Ebene: Bevor der Deich gebaut wurde, der Cigoc vor Überschwemmungen schützt, trat die Save jedes Jahr über die Ufer. Dann mussten die Menschen in ihren Holzhäusern eine Etage weiter nach oben ziehen. Ihr Holzboot machten sie je nach Wasserstand draußen an der Treppe fest.

    "Die ganze Gegend von Lonjsko Polje war im Winter immer völlig überschwemmt, das war dann wie ein großer See."

    Auch das Haus von Jagoda Sucic hat eine Außentreppe, daran hängt ein Schild: ethnografisches Museum. Vier Räume hat Jagoda mit allem zugestellt, was von den Generationen vor ihr noch herumstand. Aber wenn man einen Blick in ihr Fernsehzimmer wirft, dann sieht es dort nicht viel anders aus als im Museum.

    Jagoda Sucic spricht zwar nur Kroatisch, aber irgendwie versteht man gut, was sie meint. Wenn sie zwischen Dreschflegel und Stiefelknecht auf die Kanonenkugel zeigt, erschließt sich ganz von selbst, dass die 1593 von den türkischen Truppen auf die Stadt Sisak abgefeuert wurde. Die Front verlief damals, vor 400 Jahren, am Fluss Save entlang, ein paar Hundert Meter vorm Haus. Wie die Kugel nach Cigoc gekommen ist, weiß auch Jagoda nicht, sie lacht. Ihre blauen Augen leuchten im faltigen Gesicht. Die alte Frau muss einmal sehr schön gewesen sein. draußen klappern die Störche, lauter als bei den Nachbarn. Denn zum ethnografischen Museum von Jagoda Sucic gehören nicht nur Sensen und eine acht Kilo schwere türkische Kanonenkugel, sondern auch fünf Storchennester auf dem Dach. Fünf Nester voller Störche - das ist selbst in Cigoc etwas Besonderes.