Freitag, 19. April 2024

Archiv


Meilenstein der elektronischen Musik

Es gilt als eines der einflussreichsten Alben des Genres und avancierte zu einem Underground-Hit der entstehenden House- und Techno-Szene: das im Dezember 1981 eingespielte Album "E2-E4" des Gitarristen Manuel Göttsching. Dass es einmal so wichtig werden könnte, war nicht abzusehen, meint er. Zumal das einstündige Musikstück gar nicht als Veröffentlichung geplant war.

Manuel Göttsching im Gespräch mit Sascha Ziehn | 17.12.2011
    Sascha Ziehn: Als Sie "E2-E4" im Dezember 1981 aufgenommen haben, hätten Sie da gedacht oder zumindest geahnt, dass dieses Album einmal so wichtig werden könnte?

    Manuel Göttsching: Das konnte man nicht ahnen. Natürlich muss man sich an die Zeit erinnern, Ende der 1970 bis Anfang der 1980er-Jahre. In dieser Zeit hatte die elektronische Musik eine andere Richtung eingeschlagen. Das ist natürlich auch bedingt durch die technische Entwicklung: In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre kamen kleinere Keyboards auf den Markt, Synthesizer wurden plötzlich polyphon und man konnte sie programmieren. Und das hat dazu geführt, dass viele Musiker mit diesen Geräten experimentiert haben. Es entstanden dann viele eher kurze Stücke und auch in der Populärmusik haben sich elektronische Instrumente stark verbreitet, was sich in den 1980er-Jahren ja noch fortgesetzt hat.

    Ziehn: In den 1980er-Jahren war ja diese "kurze Form" – Stichwort: der Schlagerpop der Neuen Deutschen Welle – stark verbreitet. Warum haben Sie denn diese vermeintlich unmoderne Form für "E2-E4" gewählt, eben ein langes, einstündiges Stück, verteilt auf zwei LP-Seiten?

    Göttsching: Das kommt aus meiner Geschichte. Ich habe mich immer für Komposition interessiert, und mich hat gerade auch immer interessiert, wie man andere musikalische Formen entwickeln kann, Kompositionsformen - und diese dann auch auf die Elektronik übertragen. Ich habe mich Mitte der 1970er-Jahre für die Minimal Music interessiert und war davon sehr beeinflusst, von Aufnahmen von Terry Riley, später auch Steve Reich und Philip Glass. Das habe ich versucht, in meiner Musik zuerst auf Gitarre umzusetzen. Und dieses Interesse an längeren Stücken hat damit zu tun, dass ich Konzertmusiker bin. Ich habe nicht im Studio angefangen, sondern ich habe Konzerte gespielt – und ein Konzert ist nun mal eine oder zwei Stunden lang.

    Ziehn: Sie haben ja auch schon sehr früh mit dieser "Abstraktion" angefangen, schon Anfang der 1970er-Jahre mit Ihrer Band Ash Ra Tempel. Was war das damals überhaupt für eine Stimmung in dieser Anfangszeit des Krautrocks? Das war ja eine Zeit der musikalischen Umbrüche. Woher kam dieses Bedürfnis, vieles musikalisch anders zu machen?

    Göttsching: Es gab in Deutschland in den 1950er und 1960er-Jahren nicht viel besonders aufregende Musik. Nach der Nazizeit war unsere Kultur ziemlich am Ende: Entweder war sie ausgerottet oder sie war ausgewandert. Und es hat nicht gereicht, einfach nur die Häuser wieder aufzubauen, sondern man musste auch die Kultur wieder neu aufbauen. Und dazu gehört auch die Musik. Es gab Jazzmusik und dann kamen natürlich Strömungen aus den USA und aus England, die dann zur Rockmusik führten. Und da war unter den Musikern in Deutschland das Bedürfnis groß, auch hier wieder eine Musik zu schaffen, die sich davon abhebt und einen typischen Charakter hat. Und da kam eben auch Ash Ra Tempel dazu, Anfang der 1970er-Jahre. Wir haben uns orientiert an freier Musik, an experimenteller Musik – und das hat sich dann fortgesetzt, auch in den ganzen Experimenten mit elektronischen Geräten.

    Ziehn: "E2-E4" ist ein einstündiges Musikstück, auf zwei LP-Seiten verteilt. Wie kriegt man das eigentlich hin, ein so langes Stück zu machen, in dem gar nicht einmal so besonders viel passiert – und es wird trotzdem nicht langweilig. Wo ist da der Trick?

    Göttsching: Ein Trick ist das nicht. Das ist eine Konzentrationssache. Für mich war das wie ein Konzert. Das heißt: Ich sitze in meinem Studio und fange an zu spielen. Und wenn man auf der Bühne sitzt, kann man nach zehn Minuten ja auch nicht einfach sagen: "Au, war nicht so gut. Ich mach noch mal." Dadurch, dass man das wie eine Liveaufführung spielt, bekommt es auch einen Zusammenhang und einen fließenden Charakter. Das bekommt man, wenn man nachträglich an Details arbeitet, so nicht hin, weil man sich zu sehr verwuselt und das Stück keinen Zusammenhang mehr hat. Insofern ist es eigentlich gar nicht so schwer: Ich habe mich im Studio hingesetzt, alles eingestellt und habe das dann wie ein Privatkonzert für mich selbst aufgenommen – nebenbei aufgenommen, eigentlich habe ich für mich gespielt, aber ich habe auf den "Record"-Knopf gedrückt – glücklicherweise.

    Ziehn: Wussten Sie denn, als Sie dann am Ende auf die "Pause"-Taste gedrückt haben: Das ist es! Fertig!

    Göttsching: Irgendwie schon. Ich konnte das selber nicht so ganz begreifen, weil ich solche Aufnahmen ja häufiger gemacht habe. Es war schon was Besonderes, weil das Stück von vorne bis hinten stimmte. Da war nichts dran, das lief und lief und lief, war sauber und es gab daran nichts zu rütteln. Und das hat mich schon umgehauen, weil ich dachte: "Das ist ja toll! Jetzt hast Du hier so ein einstündiges Stück, was machst Du denn jetzt damit'" – denn es war eigentlich nie als Veröffentlichung geplant.

    Ziehn: Und Ende der 1980er-Jahre gab es dann dieses Stück namens "Sueno Latino" – ein Chill Out Techno Stück, das komplett auf "E2-E4" basierte. Wann haben Sie dieses Stück zum ersten Mal gehört bzw. davon erfahren?

    Göttsching: Ich habe nach der Veröffentlichung meines Albums im Jahr 1984 immer mal wieder Nachrichten bekommen, über Umwege und über Bekannte, dass das Stück in irgendwelchen Clubs und Discos in New York lief, im Studio 54 oder in der Paradise Garage. Und ich konnte mir das gar nicht richtig vorstellen, dass dieses Stück so einen Erfolg in Clubs hat, weil es eigentlich eine sehr fließende Musik ist, die nicht als Tanzmusik konzipiert ist. Es gibt keine deutlichen Bassdrums oder so was – die Elemente sind zwar vorhanden in dem Stück, aber eben nicht im Vordergrund. Und es gab dann diese Anfrage, dass Italiener dieses Stück machen wollten, auf Italienisch – wo ich mich gefragt habe: "Wie wollen die das denn machen, es gibt doch gar keinen Text?"
    Für mich war es interessant, dass in dieser Zeit des Techno wieder eine experimentelle Musik entstand, die sich mit Elektronik und Instrumenten beschäftigt hat und die eben nicht in Begriffen wie Strophe und Refrain gedacht wurde – sondern dass man wieder freier spielte und komponierte und auch wieder längere Stücke machte. Das fand ich eine interessante Entwicklung.

    Ziehn: Welche Rolle spielt dieses Album heute für Sie? Denn Sie spielen ja "E2-E4" auch live.

    Göttsching: Ich habe dieses Stück viele Jahre überhaupt nicht live gespielt, weil das technisch gar nicht möglich war – aber die technischen Möglichkeiten haben sich natürlich im Laufe der Jahre komplett geändert. Ich habe "E2-E4" ja in meinem Studio aufgenommen, und man muss sich das so vorstellen: Da steht in der Mitte ein großes Mischpult, auf der rechten Seite diverse Tonbandgeräte und Effektgeräte, auf der linken Seite stehen dann die ganzen Keyboards und Synthesizer. Das ist ein großes Instrumentarium, in dem ich mich bewege und mal hier auf einen Knopf drücke und da mal rumschalte. Und dann schnalle ich mir noch eine Gitarre um und spiele. Also: Wie soll man so etwas an ferne Orte transportieren und das auf einer Bühne auf- und wieder abbauen? Das ist doch ein großer Aufwand. Und früher waren die Geräte auch noch nicht so komfortabel: Die mussten ja erst mal drei Stunden warm werden und bis die Töne stimmten. Ich habe das erste Livekonzert mit "E2-E4"als einmalige Geschichte betrachtet, die auch schön geworden ist – aber es hat lange gedauert, bis die Computer so stabil liefen wie heute, dass man sie auf einer Bühne verwenden kann. Aber ich bin sehr froh, dass das mittlerweile möglich ist. Und ich habe "E2-E4" dann noch einmal mit Computern für eine Liveversion bearbeitet, eben so, dass ich es auf eine Bühne bringen kann. Und das kann ich live jetzt auch so aufführen.