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Meilensteine der Anti-Moderne

Die Oper "Mireille" war weitgehend in Vergessenheit geraten. Nicolas Joel hat nun aber den Auftakt seiner Amtszeit an der Pariser Opéra National mit der "Mireille" bestritten. Er ließ sich dabei von dem auf ältere Musik spezialisierten Dirigenten Marc Mikowski begleiten und vertraute auf ein Team vorwiegend junger Sänger.

Von Frieder Reininghaus |
    Das Umfeld der Einstandspremiere von Nicholas Joel wurde sorgfältig vorbereitet. Der neue Direktor erklärte programmatisch, dass er die avancierteren, vor allem in Deutschland gepflegten Theaterformen für Irrwege halte. Und da er einer nationalen Einrichtung vorstehe, mache er Theater für alle Franzosen. Also setzte er gleich zu Beginn ein Werk aus dem Fundus französischer Heimatkunst aufs Programm – nicht in der aus der "sozialistischen" Ära François Mitterrands stammenden "Opéra Bastille", sondern im "Palais Garnier", dem Repräsentationsbau der Herrschaft Napoleons III. Auch sorgte Joel dafür, dass das Staatsfernsehen seine nationalstaatstragende Bemühung landesweit ausstrahlt. Es ist wie derzeit bei den Bayreuther Festspielen: Hauptaugenmerk wird auf mediale Vermarktung verwendet, der Inhalt stiefmütterlich behandelt.

    Zu den kleinen Preziosen einer so gestrickten Erinnerungskultur gehörte eine Ausstellung zu Frédéric Mistral, Charles Gounod und "Mireille" im Palais Garnier. Gezeigt werden dort neben der Originalpartitur und einem Skizzenblatt auch Gounods Reisepass, eine Reihe von Porträts sowie Plakate für "Mireille"-Aufführungen im 19. Jahrhundert; in erster Linie aber Kostüme, Figurinen und Materialien zu Gounods "Faust", der die Rezeption dieses gediegenen Tonsetzers dominiert.

    Auch die fünfaktige Oper "Mireille" ist ganz überwiegend mit Musik bestückt, die auf der Erfolgsrezeptur für die sehr freie Goethe-Adaption basiert. Allerdings scheint es, als habe der Organist Gounod hie und da – zum Beispiel zu Beginn der Ouverture – provençalische Folklore aufgegriffen. Ansonsten wölbt sich der musikalische Amtsgeist des zweiten Kaiserreichs über die Liebes- und Leidensgeschichte der reichen Bauerntochter, der die Zuneigung zu einem Korbflechtersohn von ihrem patriarchalisch wütenden Vater ausgetrieben und die so ins Unglück gestürzt wird. Da ist dann das bewährte Sentimentalitätspotenzial zur Stelle, das auch schon Gretchen erhob.

    Mireilles Partie wurde von der jungen kroatischen Sopranistin Inva Mula mit leicht geführter Stimme bestritten – anrührend wie das, was die beiden um sie rivalisierenden Burschen in die musikalische Wagschale warfen – Charles Castronovo als Spieltenor und Franck Ferrari als Klischee eines Bösewichts. Allerdings war der Prima donna das einzige Stück der "Mireille"-Musik erlassen worden, das in Wunschkonzerten überdauerte – die technisch anspruchsvolle Schwalben-Arie ["O légère hirondelle". Begründung: Diese Nummer sei erst kurz nach der Uraufführung auf Verlangen der singenden Gattin des damaligen Opern-Direktors nachgeschoben worden. Dass sie entfiel, war schade. Denn gerade diese Arie gibt einen Vorgeschmack auf das, was Georges Bizet, ein Schüler Gounods, ein Dutzend Jahren nach der provençalisch grundierten "Mireille" seiner "Carmen" als "spanisches" Kolorits mit auf den Lebensweg gab.]

    Die wenig plausible Beschneidung geschah im Namen von "Werktreue". Mit der hat nun aber der Regisseur Nicholas Joel gar nichts im Sinn. Die Bilder, die ihm Ezio Frigerio für die Bauernarmut des tiefen Südens im 19. Jahrhundert lieferte, sind ebenso von ungebrochen ahistorischer Schönheit wie die Dekorationen der nächtlichen Schrecken. Kornfelder, so weit der Blick reicht, davor propere Bäuerinnen, die Maulbeerblätter ernten – fröhliche Landfrauen wie einst auf den Geldscheinen des realen Sozialismus. Nur mit etwas zu hohen Absätzen. Der Mond über der Rhône ist der einzige Zeuge dafür, dass ein finsterer Fährmann den Stierbändiger Ourrias, der Mireilles Liebhaber niederschlägt, in den finsteren Abgrund rangiert. [Das hätte sich der ins Mittelmeer mündende Fluss nicht träumen lassen: dass er – nach der Weise der Hotelbildmalerei – noch einmal nach Paris umgeleitet wird und mit sanft gekräuselten Wellen durchs Palais Garnier fluten darf.] Mit aufdringlichen Bildern, die sich der Historizität des Werks nicht stellen, und einer verblüffend dilettantischen Personenführung – wer singt, stellt sich halt vor den Dirigenten, violà! – pflegt Nicholas Joel einen Theaterstil, der bereits vor 50 Jahren obsolet war. Das Provençalische ist einfach provinziell geworden. Der neue Pariser Operndirektor hat die aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit genährten Befürchtungen vollauf bestätigt. Er soll und will in Paris Meilensteine der Anti-Moderne setzen. Die Maus, die kurz vor der Premiere aus den Kellern des Phantoms kam, trippelte übers Trottoir und suchte unterm Ü-Wagen Zuflucht. Sie hat mit gutem Instinkt das sinkende Opernflaggschiff verlassen.