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Meilenweit Fanfeste

Das "Wort des Jahres" 2006 lautet: Fanmeile. Gemeint ist damit der gut 2,5 Kilometer lange Berliner Straßenabschnitt zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor. Dort fanden sich zur Fußball-WM vor vier Jahren mehr als 700.000 Menschen aus aller Welt ein, um gemeinsam Fußball zu schauen und zu feiern. 2010 ist wieder WM – allerdings im Ausland.

Von Johanna Herzing | 26.06.2010
    "Die Welt zu Gast bei Freunden" - so lautete das offizielle Motto der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 – und tatsächlich - Fans aus aller Welt kam nach Deutschland:

    "I wanna make a big "Fest", a big Party!

    "Ich heiße Ruben; ich bin aus Spanien!"

    "Johnny from Guadalajara, Mexiko"

    "My name is Farid, I’m coming from Los Angeles!"

    "Extra aus Hannover gekommen, mit der ganzen Klasse!"

    "I met so many people, I love it!"

    Rund zwei Millionen Fans reisten an, mit oder ohne Eintrittskarte. Deutschland feierte ein buntes Fußball-Fest – und das bis zum Schluss, obwohl sich die Mannschaft um den damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann mit dem dritten Platz begnügen musste. Man feierte und blickte nach vorn:

    "Die ganze Welt greift nach dem goldenen Pokal, am Kap der guten Hoffnung probieren wir’s nochmal. Wir als Gast in Südafrika, wird unser Traum dann endlich war."

    "1 und 2 und 3 und 4 und 54, 74, 90, 2010, ja so stimmen wir alle ein – mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein."

    Der Refrain im WM-Song 2006 der Sportfreunde Stiller wurde kurzerhand umgetextet. 2010 lautete jetzt die Zielvorgabe. Inzwischen naht der Tag der Wahrheit und nach der knappen Qualifikation für das Achtelfinale klingt es bei einigen Fans eher nach dem Mut der Verzweiflung, denn nach echter Überzeugung:

    "Kann nur besser werden gegen England und da schaffen wir’s definitiv auch!"

    "Also ernsthaft, da kann man nichts, also Rooney, naja, und der pöbelnde restliche Mob, der schießt auch keine Tore."

    "Die schlagen wa och noch weg!"

    "Ich hofe natürlich, sie schaffen’s, aber ich glaub’s eigentlich nicht..."

    "Tja, wird sehr schwierig, aber im Elfmeterschießen, wir hoffen auf ein Green!"

    "Naja, wir hoffen mal, dass se gewinnen, ne; immer weiter, das Sommermärchen muss weiter gehen! – Deutschland!"

    Das Sommermärchen muss also weitergehen. Aber tut es das?

    "Sommermärchen ist das falsche Wort, weil wir haben ja Winter in Südafrika, also es kommt nicht so viel Stimmung rüber meiner Meinung nach."

    "2006 war’s halt hier bei uns, da waren die ganzen anderen Nationen bei uns zu Gast und jetzt sieht man’s nur im Fernsehen und das ist halt schon was anderes..."

    "Als wenn ich mich da jetzt dran erinnern könnte, was war denn 2006? Du meinst jetzt hier, so, als die WM in Deutschland war?"

    "Also, ich find’s ein bisschen schade… "

    "Ja, es war mehr Stimmung, 2006 war viel mehr Stimmung, aber ich glaube, das kriegt man auch nicht mehr zurück, wie’s damals mal war; wahrscheinlich sagen alle immer, 2006 war’s sowieso besser."

    Stimmt, das sagen alle. Aber darf man das?

    "Also ich glaub’, wenn man jetzt anfängt, die WM 2010 mit der WM 2006 zu vergleichen, dann darf man nicht vergessen, dass der eigentliche Vergleichswert ja die WM 2002 ist, weil 2006 war sowieso ein Sonderfall, ein super Phänomen und ne special Zeit. Wichtig ist doch zu kucken, was war vor 2006, wie war das als 2002 Deutschland Vize-Weltmeister geworden ist und ich glaub’, wenn man da wirklich genau hinschaut, wird man ziemlich schnell erkennen, dass viel weniger Frauen Fußball gekuckt haben und viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund im Deutschland-Trikot auf der Straße waren.""#

    Lutz Harbaum glaubt an die Magie der WM – und zwar ganz unabhängig davon, wo sie stattfindet. 2010 sind er und sein Freund Moritz Harms vom Rap-Duo "Kunstrasen" überzeugt, dass Jogis Jungs es schaffen werden. Sie haben in ihrem Songtext die "Löw-Parade" ausgerufen:

    "Vor vier Jahren war’s Pech und vor zwei Jahren waren die Spanier besser; die Party wurde vertagt; jetzt ist die Hoffnung unsere alte, aber wir sind deutlich motivierter, drei Mal war der Titel unserer, macht jetzt endlich Nummer vier klar!"

    "Die Löw-Pparade sagt im Grunde genommen das aus, was alle WM-Songs und EM-Songs aussagen, nur deutlich cooler. Wir wollen, dass die Mannschaft gegen England gewinnt und dann schön ins Finale durchmarschiert und dann die Weltmeisterschaft gewinnt."

    Eine Hoffnung, mit der sie nicht allein sind. Ganz Deutschland, ist derzeit gestreift, schwarz-rot-gold gestreift: Mädchenwangen, Fensterbänke, Chipstüten und Hundejäckchen – überall wird Farbe bekannt:

    "Die Leute trauen sich wieder, die deutsche Fahne zu zeigen und das gab’s ja vorher eigentlich jahrelang nicht. Also da sind die Deutschen ja wieder irgendwie stolz auf ihre Fahne geworden."

    Und noch etwas anderes hat sich geändert:

    "Fußballgucken ist jetzt ein öffentliches Event geworden, ja. Dass man nicht mehr sagt, ich will das zu Hause alleine im Wohnzimmer schauen oder im Garten mit meinen Nachbarn, sondern ich will das jetzt hier mit 2000 Menschen zusammen schauen. Das ist, glaub’ ich, der große Unterschied, den 2006 ausgemacht hat, dieses Public Viewing-Gefühl, was es vorher nicht gab."

    Das Sommermärchen hat die Deutschen also hinter dem Ofen hervorgelockt – seit 2006 ist Schluss mit Stubenhocken.