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Mein erstes T-Shirt

Fehlsichtigkeit hat ihre Nachteile. Man hält eine Welt für wahr (und allgemeinverbindlich), die in den Augen anderer schärfer, weniger gekrümmt oder farbenreicher aussieht und sich mit ihnen keinesfalls teilen läßt. Um sein eigenes Außenseitertum zu bekämpfen, tritt man in die Bruderschaft der Brillenträger ein - womit man neues Außenseitertum begründet. Die Brille an sich ist schon ein Grund zur Diskriminierung, jedenfalls im Kindesalter, und je dicker die Gläser, desto heftiger der Spott. Korrigierte Fehlsichtigkeit mag einen zwar davor bewahren, sich in das häßlichste Mädchen der Klasse zu verlieben, aber die Nebenwirkungen fallen nicht minder schwer als die -4 Dioptrien ohne Brille aus. Wer küßt schon gerne jemanden, dem ständig die Gläser beschlagen? Nein, kindliche Fehlsichtigkeit prägt fürs Leben: Gerade dem, der am wenigsten zum Beobachten taugt, wird die Rolle des Beobachters zugewiesen.

Florian Felix Weyh |
    Klein-Jakob ist Brillenträger und Geschichtenerzähler obendrein. Geboren Anfang der siebziger Jahre in Ostberlin - man kann sich lebhaft vorstellen, wie damals Plaste-Kinderbrillen aussahen - teilt er mit seinem Schöpfer, dem Arzt und Schriftsteller Jakob Hein, die schwere Jugend in einer Mangel-DDR. Es mangelte vor allem an Dingen, die Heranwachsenden das nötige Identitätsgefühl verleihen: anständige Klamotten, achtbare Tonträger, trinkbarer Alkohol. Bloß kein Krautrock Made in GDR, sondern die unverzichtbare Ottoplatte mit ihrer pubertierenden Humormixtur. Statt des Weichei-Gesöffs "Grüne Wiese" (eine Mischung aus Orangensaft und blaugefärbtem Likör) bitte echten Gin! Damit aber auch schon genug der trennenden Unterschiede zwischen Ost und West. Die Probleme, als Minderjähriger an alkoholische Getränke zu kommen, unterschieden sich ebensowenig wie die Nöte mit Lehrern oder dem anderen Geschlecht, das - hier spricht der spätere Diagnostiker - "insgesamt von Periodizität geprägt zu sein scheint". Nicht nur biologische Rhythmen, die sich in Regelblutungen niederschlagen, nein auch ein Phänomen wie der Poesiealbumwahn vollzieht sich bei Frauen in kollektiven Intervallen. Wohl dem, der von seinem Vater einen passenden Spruch geschenkt bekommt: "Wirf nie deine Mutter mit Kieseln, wenn sie stirbt, wirst du traurig sein. Schmeiß lieber nach deinem Vater mit einem richtigen Ziegelstein."

    Abgesehen von der grammatikalischen Merkwürdigkeit dieses Brendan-Behan-Zitats - müßte es nicht "Bewirf nie deine Mutter mit Kieseln" heißen? - ein starker Satz, und eine irrsinnig komische Szene, die sich daraus entwickelt. Denn was die flüchtige Inhaltsangabe zunächst befürchten läßt - schon wieder eine Versammlung nichtiger Kindheitsanekdoten einer Generation, die wenig erlebt und noch weniger zu erzählen hat, wird durch den Erzählgestus erfrischend gebrochen. Die Schilderungen Heins enthalten gerade so viel markentreue Realität, um sich für den Durchschnittsleser als Identifikationsangebot à la "Generation Golf" zu bewähren, doch dann setzt die Verfremdung ein. Nicht nur mit seinem Schöpfer hat der kleine Jakob den Vornamen gemein, sondern auch mit einem großen Vorgänger: Jakob van Gunten, jenem naiven Taugenichts aus der Feder Robert Walsers. Zwar ist Heins Protagonist bei weitem nicht so melancholisch, aber sein Blick auf die DDR hat einen Walserschen Stich ins Irreale. Das rettet den Stoff von der Zeitsatire hinüber in literarische Gefilde und garantiert, daß "Mein erstes T-Shirt" auch dann noch lesenswert bleiben wird, wenn sich niemand mehr an die DDR erinnert. Vielleicht hat es sie überhaupt nie gegeben, denn der Verlag schürt die Zweifel an der Verläßlichkeit unserer Wahrnehmung kräftig: Im Buch ist von einem gelben T-Shirt die Rede, auf dem Cover prangt ein knallrotes. Brillenträger unter den Lesern mögen das eher verstehen: Nichts ist, wie es scheint, und am Ende gehört die Welt den Fehlsichtigen. Unerschütterlich putzen sie sich dreimal die Gläser, bevor sie etwas glauben.