Freitag, 29. März 2024

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Mein Havanna. Geschichten über die Liebe zur Stadt

Lange war von ihm nichts Neues mehr auf Deutsch zu lesen. Die Folge der Romane, die Alejo Carpentier als einen Majordomus im Palast der lateinamerikanischen Erzähler ausweisen, wurde 1993 mit dem Jahrhundertrornan "Le sacre du printemps" abgeschlossen. Der größte Erzähler seines Landes war schon mehr als ein Dutzend Jahre zuvor, nämlich 1980, in Paris gestorben. In dieser Situation ist auch leichtere Ware willkommen - mehr als ein Dutzend Texte, wie sie die Gelegenheit angetragen, die Erinnerung nahegelegt das Staunen in Bewegung gebracht, ein innerer Bildvorrat bereichert lat. Zentriert sind sie um ein Zauberwort, San Cristóbal de La Habana. Sie umfassen die Zeitspanne fast eines halben Säculums, in dem Carpentier Stadtbewohner und Reisender, Emigrant, Rückkehrer und Einheimischer war.

Wilfried F. Schöller | 16.04.2000
    Ein hinreißender Essay über Havarina war schon früher (verdeutscht von der bestechenden Übersetzungskünstlerin Anneliese Botond) bekannte Er findet sich als Kernstück auch in dieser Sammlung: "Die Stadt der Säulen" erweist den Romancier als Traumdeuter der Architektur, der das Spiel des Irregulären und Willkürlichen als Zeichen einer raffinierten Erfahrungskultur versteht und aus der scheinbaren Regellosigkeit einen Stil entwickelt. In den farbigen Halbbogenfenstern, einem havanneser Wahrzeichen, entdeckt er eine Entsprechung zur abstrakten Malerei der europäischen Moderne - "kombinierte. 10 Dreiecke, sich überschneidende Spitzbigen, ein Aufmarsch reiner Farben: Spielkarten, in hundert kubanischen Häusern definiert und ausgespielt".

    Er ist in diesem Essay der Generalsekretär dieser Stadt, ihr Archivar und ihr kundiger Anwalt.Die anderen Texte sind Sekundenschriften, Feuilletons, Ortsbesichtigungen, allesamt bilden sie eine verwinkelte Liebeserklärung an Havanna. In urbanen Abschweifungen taucht er zurück bis in den Erinnerungsdämmer 19. Jahrhunderts, in vorsintflutliche Entlegenheit; er markiert ein Merkdatum des gesellschaftlichen Wandels mit dem Ende des Diktators Machado, nimmt Castros Revolution von 1959 mit auf, ohne davon merklich berührt zu werden. Havanna, ein Tropentheater, das schon früher so heruntergekommen war wie es heute ist, das sich ebenso schäbig wie hinreißend darbot. Die Transitexistenz der kreolischen Kapitale hat ihre besonderen Reize: "Havanna ist die Stadt des Unfertigen, des Mangelhaften, des Asymmetrischen, des Verwahrlosten." Alejo Carpentier leuchtet in Kirchen und Bordelle hinein, läßt sich von Moden und Riten, Farben und Gerüchen betören, entziffert die Zeichen an den Kolonialbauten, ist vertraut mit der Liturgie des gewöhnlichen Alltags, (Der unversehens in surrealistische Episoden umspringt, wenn im Teatro Nacional ein Pottwal ausgestellt wird, bis der Geruch nicht mehr zu ertragen ist, oder ein italienischer Graf seiner Leidenschaft fürs Klavier ausgerechnet im französischen Puff nachgeht. Carpentier durchstrekt die Bezirke am Hafen, der tief ins Innere der Stadt einschneidet, studiert die Vororte der Einwanderer: "Die Einmütigkeit der Wünsche, Bedürfnisse und Enthehrungen macht sie zu Mitgliedern einer großen Familie, die sich jedoch, tief hinten in ihren schmutzigen Herbergen, gegenseitig ignorieren."

    Er heftet seine Aufmerksamkeit aut die Halbinsel Regla und dort auf die schwarze Madonna. Die Stimmen der Marktschreier und Ausrufer intonieren die Musik der Straßen, die Wucherungen der Ornamente, die Bizarrerien des Antillen-Barocks sind seine Sache. Die Mythologie der Lotterielose, die Freudsche Symbolik der Zahlen verbreitet überall eine Atmosphäre des Wunderbaren." Da ist der glanzvolle Erzähler"., seines Landes in seinem Fach: magischer Realismus. Nicht nur ein Flaneur mit seinen geschärften Wahrnehmungen und seiner Augenkunst der Zerstreuung schlendert durch die Straßen. Auch der Gegenblick dessen, der vom Meer herkommt, von anderwärts, aus der europäischen Ferne, wird erprobt. Es ergeben sich Lesarten der Moderne; das Fragment, die Collage, das Kaleidoskop erscheinen in der kreolischen Szenerie. Der Synkretismus der Folklore wird betont, Lautréamont als Gewährsmann des ordnenden Zufalls aufgerufen.

    Havanna ist ja eine Stadt, die mit Castros Regime alle Kenntnisse aus der Vorzeit abgeschüttelt hat, die geschichtlich ahnungslos und vergeßlich nur die mumifizierten Losungen der Revolution, das versteinerte Pathos eines mißlungenen NeuaLdangs ausstellt. Der farbige Fächer von Bildern aus der Vergangenheit vor dem verjährten Caudillo ist zugeklappt. Und doch begegnet, wer am Malecon oder in der Altstadt umherspaziert, den Einzelheiten eines mächtigeren Gestern als unentzifferbaren Hieroglyphen. Verwirrt ahnungslos, wie der Kuba-Besucher gehalten wird, kann er mithilfe dieses Stadtporträts von Alejo Carpentier, gespickt mit reichlich alten Fotos, das Arom versunkener Zeiten wittern. Hunderttausende deutscher Touristen reisen jedes Jahr in die karibische Hauptstadt. Dieses Taschenbrevier des entlegenen Blickwechsels sollte bei keinem von ihnen fehlen.