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Mein Klassiker - Jeanine Meerapfel
"Eine Sprache, die ganze Universen aufmacht"

Filmemacherin Jeanine Meerapfel ist eine präzise Geschichtenerzählerin. Fern von Vereinfachung und platten Antworten geht sie in ihren Filmen dem Thema Flucht und Identität auf die Spur. Inspiriert wurde sie durch Schriftsteller Jorge Luis Borges.

Von Adalbert Siniawski | 20.12.2016
    Jeanine Meerapfel, Filmemacherin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin
    Jeanine Meerapfel, Filmemacherin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin (dpa / picture alliance / Jörg Carstensen)
    Mein Name ist Jeanine Meerapfel, ich bin Drehbuchautorin, Filmemacherin. Mein Klassiker ist: Jorge Luis Borges, insbesondere sein Buch "Fiktionen".
    "Das Buch war auf englisch verfaßt und bestand aus 1001 Seiten. A First Encyclopaedia of Tlön, Vol. XI, Hlaer to Jangr."
    Für mich ist Borges derjenige, der sich am meisten meiner Vorstellung von einer komplizierten, komplexen und extrem poetischen Sprachkunst erfüllt.
    "Auf der ersten Seite und auf einem Blatt aus Seitenpapier, das eine der Farbtafeln bedeckte, war ein blaues Oval eingedruckt mit der Inschrift: Orbis Tertius."
    Außergewöhnliche Wortkunst
    Das ist eine Form der Sprache, die ganze Universen aufmacht. Er hat die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die mir das Gefühl geben, ein Teil der ganzen Geschichte der Menschheit zu sein.
    "In der mutmaßlichen Ursprache Tlöns, von der die heutigen Sprachen und Dialekte herstammen, gibt es keine Substantive. (...) Zum Beispiel gibt es kein Wort, das dem Wort Mond entspräche. Aber es gibt ein Verbum, das 'monden' oder 'mondieren' lauten würde."
    Jedes Wort steht für sich.
    "'Der Mond ging über dem Fluß auf' lautet: hlör u fang axaxaxas mlö…"
    Jedes Wort ist wie in Marmor ziseliert.
    "…oder in genauer Wortfolge: 'Empor (upward) hinter dauerfließen mondet es.'"
    Jedes Wort ist so lange bearbeitet worden, bis es schillert,…
    "(Xul Solar übersetzt knapp: 'Upa tras perfluyue lunó.'"
    …bis es einem das Gefühl gibt, es war dieses Wort oder keines mehr.
    "(Upward, behind the onstreaming it mooned.)"
    Wenn Borges in einem Gedicht sagt: Was bedeutet das Wort: Mond?
    "Man sagt nicht 'Mond', man sagt: 'luftighell auf dunkelrund'…"
    Und dann fängt er an, dieses Wort auseinanderzunehmen,…
    "…oder 'orange-zart-himmlisch'…"
    …zu beschreiben, über welche Monde man nachdenken kann.
    "…oder irgendeine andere Wortfügung."
    Eine Art philosophischer Teppich
    Das ergibt eine Art philosophischen Teppich, auf dem man wirklich navigieren kann. Das ist eine Kunst, die ist so mehrdeutig wie Musik, so reich und bilderhaft wie Bilder. Da muss ich immer wieder nachlesen.
    "Es gibt berühmte Gedichte, die aus einem einzigen Wortungeheuer bestehen. Dieses Wort verkörpert ein vom Autor geschaffenes poetisches Objekt."
    Es ist ein Vorbild dafür, dass alles noch einmal bearbeitet werden muss, noch einmal bedacht werden muss. Ist das das richtige Wort? Brauche ich das Wort überhaupt? Kann dieses Adjektiv vielleicht nicht weg? Kann diese eine Szene aus dem Film nicht weg - und ich habe trotzdem die Geschichte erzählt? Daraus habe ich sehr viel gelernt.
    "Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen, auf 500 Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht."
    Als ich 15 Jahre alt war, seitdem lese ich das.
    "Ein besseres Verfahren ist es, ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen."
    Jetzt bin ich viel, viel älter - und ich lese es immer weiter.