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"Mein liebes Seelchen"

Die Briefe Martin Heideggers haben eine lange Geschichte. Nach dem Tod des Philosophen übergab Elfride die Briefe an ihre Enkelin Gertrud. Sie sollte die Dokumente aber auf keinen Fall vor dem Jahr 2000 veröffentlichen. Nun, 29 Jahre nach Martins und 13 Jahre nach Elfrides Tod, hat sie eine Auswahl der über tausend Briefe publiziert. Gänzlich neue Erkenntnisse für die Heidegger-Forschung sind daraus aber nicht abzulesen.

Von Klaus Englert | 20.12.2005
    "Die Bodenständigkeit des heutigen Menschen ist im Innersten bedroht. Mehr noch: Der Verlust der Bodenständigkeit ist nicht nur durch äußere Umstände und Schicksale verursacht, auch beruht er nicht nur auf der Nachlässigkeit und oberflächlichen Lebensart der Menschen. Der Verlust der Bodenständigkeit kommt aus dem Geist des Zeitalters, in das wir alle hineingeboren sind."

    Mit prophetischem Tonfall beklagte Martin Heidegger vor 50 Jahren den "Verlust der Bodenständigkeit". Diese konservative Zivilisationskritik ist auch in seinem Jahrhundertwerk Sein und Zeit von 1927 und in der berüchtigten Freiburger Rektoratsrede von 1933 zu spüren. Bereits in der Weimarer Republik geißelte er die Zersetzungs- und Entfremdungstendenzen der modernen Gesellschaft, die Verfälschung der Werte, die Entstehung von Klassen und Parteien, die allgemeine Haltlosigkeit, gesteigert durch Egoismus und Liberalismus.

    Wie sehr dieses Motiv Heideggers Denken seit den ersten akademischen Jahren durchzieht, lässt sich nun in seinen Briefen nachlesen, die er seiner Frau Elfride schrieb. Eine der frühesten Briefe verfaßte der 28-jährige Soldat Martin, als er im Sommer 1918 in Berlin stationiert war. Der schwäbische Provinzler, der Jahre später am liebsten in der Todtnauberger Hütte lebte, muss Berlin als den sprichwörtlichen Großstadtmoloch empfunden haben:

    "Wir fuhren nach Berlin und sahen uns den Betrieb auf der Friedrichstraße an. Eine solche Luft künstlich hochgezüchteter, gemeinster und raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten, ich verstehe aber jetzt Berlin schon besser – der Charakter der Friedrichstraße hat auf die ganze Stadt abgefärbt – und in einem solchen Milieu kann es keine wahrhafte Geisteskultur geben. Die Menschen hier haben die Seele verloren, vielleicht kann das 'geistige' Berlin durch eine bodenständige Kultur an den Provinzuniversitäten überwunden werden."

    1930, wiederum in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, kommt Heidegger in einem Brief an Elfride nochmals auf Berlin zu sprechen. Der Freiburger Philosoph, dessen Werk Sein und Zeit an sämtlichen deutschen Universitäten für Furore sorgte, erhält nämlich einen Ruf an die Berliner Universität. Doch der international bekannte Philosoph erlaubt es sich, abzulehnen. Nicht ohne Hochmut schreibt er seiner Frau, Berlin müsse "von außen erobert werden". Doch Eroberungsgelüste liegen Heidegger fern: Lieber bleibt er an der Freiburger "Provinzuniversität" und verachtet die ihm "ganz gleichgültig" (S.164) gewordene Großstadt. Deswegen musste es Heidegger hinnehmen, dass die Cheftheoretiker der NS-Bewegung ab 1933 wichtige Positionen an deutschen Universitäten bekleideten: Alfred Baeumler wird Lehrstuhlinhaber für "Politische Pädagogik" in Berlin und Ernst Krieck Rektor der Universität Frankfurt. Den letzten beschimpft Heidegger im Sommer 1932 als "ein von Ressentiment geladener emporgekommener Volksschullehrer" (S.175). Überhaupt zeigen die Briefe deutlich, dass Heidegger vor seiner umstrittenen Rektoratszeit von 1933/34 ein deutlich reserviertes Verhältnis zu den nationalsozialistischen "Geistesgrößen" pflegt. Wenig überrascht es daher, wenn er vom "Gebrodel und dem unklaren Zeug der Nazis" spricht.

    Wenig später – vor der sog. "Machtübernahme" - kritisiert er, dass die Nationalsozialisten "überall versagen". Diese Distanznahme verkannte der französische Philosoph Emmanuel Faye völlig, als er jüngst polemisch von der nationalsozialistischen Philosophie Heideggers sprach. Die geistigen Ursprünge des Freiburger Professors sind andere: Wenn er von der Einheit des deutschen Volkes, der Volksgemeinschaft, und von der neuen deutschen Universität träumte, dann hatte er stets – wie er sagte – den großen Anfang des Griechentums vor Augen. Vom Nationalsozialismus erhoffte sich der ziemlich unpolitische Heidegger einen Neu-Anfang. Sprach er als Professor zu den Studenten, dann verstand er sich als "Vorausgehender". Wenn er nach dem 2. Weltkrieg die "Universität im alten Stil" kritisierte, so war ihm doch die grundlegende Neuausrichtung schon frühzeitig klar - als "Einheit des Forschens, Lehrens und Erziehens". Nur so sei die Zersplitterung in Einzelwissenschaften zu überwinden. Dies war das illusionäre Ziel des Freiburger Rektors. Wenige Monate vor dem Rektorat schrieb er in einem Brief an Elfride:

    "Wesentlicher ist, dass wir für unser deutsches Dasein wieder ein großes Ziel und vor allem dessen begründete klare Durchgestaltung bekommen."

    Die Briefe Martin Heideggers haben eine lange Geschichte. Nach dem Tod des Philosophen übergab Elfride die in einer Holzkiste lagernden Briefe an ihre Enkelin Gertrud. Sie gab es ihr anheim, nach eigenem Gutdünken über die Dokumente zu verfügen. Nur sollten sie keineswegs vor dem Jahr 2000 veröffentlicht werden. Nun, 29 Jahre nach Martins und 13 Jahre nach Elfrides Tod, entschloß sich Gertrud Heidegger, eine Auswahl der über tausend Briefe zu publizieren. Gänzlich neue Erkenntnisse für die Heidegger-Forschung sind damit nicht zu erwarten. Wenngleich Heideggers Verhältnis zu den linientreuen Nazi-Philosophen wie Christoph Steding, Alfred Baeumler und Ernst Krieck in einem klareren Licht erscheint. Ob Elfride nicht doch den einen oder anderen belastenden Brief verschwinden ließ, wird natürlich niemals endgültig zu klären sein. Auffallend ist zumindest, dass der Band zwischen 1934 und 1936 lediglich vier gänzlich unverfängliche Briefe versammelt. Abseits von Heideggers politischen Verwicklungen machen die hinterlassenen Dokumente aber etwas anderes, eher Unerwartetes deutlich. Heidegger schwörte Elfride zielstrebig auf die Förderin seiner Karriere ein. Die gemeinsame Aufgabe sah er im "Gelingen des geplanten neuen Werkes in seiner bleibenden Geltung".

    Und noch etwas: Selten hat man die Rechtfertigung eines Seitensprungs in einer verquasteren und abgehobeneren Sprache gelesen. Die intimsten Beziehungen werden von der Warte des Seinsgeschicks gedeutet! Das war wahrlich keine Sternstunde des deutschen Philosophenkönigs, der sich während des Kriegs eine Liaison mit einer leibhaftigen Prinzessin leistete. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Ein "Vorausgehender" in Sachen Partnerbeziehung war Martin Heidegger jedenfalls nicht.

    "Mein liebes Seelchen!" Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 1915 – 1970, hrsg. und kommentiert von Gertrud Heidegger, dtv, München 2005, 416 S., geb., 22,90Euro.