Archiv


Mein Name sei Balthasar

Von Krakau über Warschau an die italienische Riviera, von dort nach Paris, dann weiter nach Mexiko, zurück nach Krakau und schließlich in die Nähe von Nizza: Seit Jahrzehnten reist der polnische Dramatiker, Erzähler und Zeichner Slawomir Mrozek durch die Welt und rückt dabei der jeweiligen Wirklichkeit mit seinem unverwechselbaren satirischen Stil auf den Pelz.

Von Marta Kijowska |
    Wenn der Mensch jung ist, versucht er, die Welt zu überholen. Dann hält er gerade mal Schritt mit ihr, und schließlich wird er langsam von der Welt überholt.

    Diese Lebensweisheit stammt von Slawomir Mrożek: einem Dramatiker, Erzähler und Zeichner, der seit Jahrzehnten unserer Wirklichkeit zu Leibe rückt und dabei seinen unverwechselbaren satirischen Stil einsetzt. Und der über seine Arbeitsweise gern sagt, er habe keine bestimmte Methode, kein Programm. Seine Stücke seien meist durch reale Ereignisse inspiriert, aber er übertrage sie immer in eine symbolische Situation. Sie waren meistens, muss man dazu sagen, der polnischen Wirklichkeit entnommen. Doch diese hat sich inzwischen stark verändert.

    "Die polnische Wirklichkeit hat sich sehr stark verändert. Das bedeutet, dass Dinge, die früher als absurd galten, heute nicht mehr so wichtig sind. Trotzdem sind meine Landsleute immer noch mein bestes Publikum. Das sind sie schon immer gewesen, und daran hat auch die neue Wirklichkeit nichts geändert. In dieser Hinsicht mache ich mir also keine Sorgen, obwohl ich über diese Treue manchmal selbst staune. Immerhin habe ich 33 Jahre lang im Ausland gelebt, und in dieser Zeit hat sich in Polen so viel getan. Ich war aber von all dem abgeschnitten oder interessierte mich ganz einfach nicht dafür."

    Während er diese Worte sagt, ist er wieder in Krakau, der Stadt seiner Jugend und seiner literarischen Anfänge. Es war wohl die Unvereinbarkeit des neuen Regimes mit der Eigenart des Landes, die seinen Sinn fürs Kuriose und Groteske schärfte. Möglicherweise lag es aber auch an dem damaligen Klima in Krakau: Die noch frische Erinnerung an den Krieg vermischte sich mit der düsteren Absurdität des Stalinismus und der Ausgelassenheit des Krakauer Künstlerlebens. Diese Kombination, die jemand treffend als "Vieldimensionalität des Traums" bezeichnete, brachte eine bestimmte Art Humor hervor, die sich auch Mrożek zu eigen machte.

    "Diese Art Humor, die in meiner Jugendzeit herrschte – also in den 50er-Jahren –, war für mich nur eine Episode. Und das liegt ja auch schon sehr lange zurück. Es war ein spezifischer Krakauer Humor, den man nirgendwo sonst findet und von dem ich mich damals tatsächlich inspirieren ließ. Der Teil meiner Werke, die ich vor meiner Ausreise aus Polen schrieb, ist ja auch ein Beweis dafür. Doch mit der Zeit war ich davon so gelangweilt, dass ich nach Warschau gezogen bin, und nach drei Jahren schließlich das Land ganz verlassen habe."
    Der Umzug nach Warschau Ende der 50er-Jahre ging auf seine ersten literarischen Erfolge zurück: Seine Geschichtensammlung "Der Elefant" und sein Bühnenerstling "Die Polizei" hatten ihn auf Anhieb zu einem der wichtigsten Autoren seiner Generation gemacht. Und als er in den frühen Sechzigern etliche Einakter schrieb – etwa die Trilogie "Striptease", "Karol" und "Auf hoher See", in der er mit böser Konsequenz die oft eindimensionale Weltsicht seiner Zeitgenossen bloßstellte –, war sein Ruf als Meister des "Theaters der logischen Fantasie" endgültig begründet.

    Dennoch beschloss er im Jahre 1963, das Land zu verlassen. Er ließ sich in Chiavari an der italienischen Riviera nieder und betrachtete sich von nun an als "Exilant auf Zeit". Seinen Stil hatte dies aber nicht verändert. Dessen Grundprinzip war weiterhin die Anhäufung absurder Situationen, die anschließend mit eiserner Logik gelöst wurden. So war auch sein berühmtestes Schauspiel Tango aus dem Jahre 1965 konstruiert: eine poetisch-grotesk verfremdete Analyse der bürgerlichen Verhaltensmuster, die die Kritiker schnell auf die Idee brachte, in Mrożek einen polnischen Verwandten von Beckett und Ionesco zu sehen. Er selbst hielt diesen Vergleich – wie einem seiner Briefe zu ennehmen ist – allerdings für wenig geglückt.

    Ich bekenne mich ganz offen zu der Verwandtschaft mit Kafka. Doch die Rezensenten faseln etwas von Ionesco und Beckett. So ein Quatsch! Der Stil à la Ionesco war ja nur eine Mode. Und Beckett ist mir zutiefst fremd, ich kann ihn schon seit Langem nicht mehr lesen – und noch weniger im Theater sehen. Er soll ohne mich jammern.

    Seine ideale Umgebung fand Mrożek dennoch in Becketts Nähe – in Paris. Dort änderte sich auch sein staatsbürgerlicher Status: Als er 1968 gegen die Niederschlagung des "Prager Frühlings" protestierte und politisches Asyl in Frankreich beantragte, reagierten die polnischen Behörden sofort: Sie zogen seinen polnischen Pass ein, verboten die Aufführung seiner Stücke und ließen seine Bücher aus den Bibliotheken entfernen.

    Diese Erlebnisse blieben nicht ohne Folgen für Mrożeks Werk: Die Stelle des "Theaters der logischen Fantasie" nahmen Stücke ein, die auf konkrete politische Ereignisse oder deren sozialpsychologische Folgen zurückgriffen. Wie in dem vielgespielten Einakter "Emigranten", an dessen Protagonisten, einem Intellektuellen und einem einfachen Gastarbeiter, er zwei Modelle der Unfreiheit demonstrierte. Mit der Zeit bekamen seine Dramen einen neuen, gleichsam "gesamteuropäischen" Zug. Erst mit dem Dreiakter "Das Portrait" von 1987 ging er wieder direkt auf das kommunistische Regime ein. Zwei Jahre später kam die politische Wende, und Mrożek sah auch für sich die Zeit gekommen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

    "Nach 1989 fing ich an, über meine Pariser Situation nachzudenken. Bis dahin war alles einfach: Ich lebte dort als Exilant, schrieb auf Polnisch, doch das wurde ins Französische übersetzt, und die Menschen kamen, um es zu sehen oder zu hören. Alles war in bester Ordnung, bis auf die Tatsache, dass ich von allem, was ich verdiente, mindestens fünfzig Prozent für die Übersetzer abziehen musste. Und ich begann zu überlegen, wie es weiter gehen sollte, denn als Asylant – ich mag dieses Wort nicht, aber es traf ja auf mich zu – war ich doch in einer anderen Situation als ein richtiger Franzose. Ich hätte natürlich bleiben und weiter so leben können, aber irgendwie gefiel mir das alles nicht mehr. Also kam ich auf die Idee, noch weiter zu ziehen: weg aus Europa. Doch mein Abschied von Frankreich war sehr traurig. Ich sprach sogar einmal offiziell darüber, ich sagte, ich würde an Frankreich mit Liebe und Zärtlichkeit denken. Und das stimmt auch: Mir ging es dort wirklich sehr gut."

    Zu seinem neuen Domizil wurde die mexikanische Ranch "La Epifania", der Besitz seiner zweiten Frau. Die Idylle sollte aber nur sieben Jahren dauern: Eine Wirtschaftskrise hatte starke Kriminalität zur Folge, und das Paar beschloss, nach Krakau umzusiedeln.

    "Diese Veränderung beziehungsweise deren Vorgeschichte, also die gegenseitige Erklärung von Susana und mir, dass es in Zukunft nicht mehr Mexiko, sondern Polen sein soll, kam völlig überraschend. Und wie immer bei solchen Entscheidungen begann ich nach einigen Tagen zu überlegen, wie dieser Wechsel konkret aussehen würde. In diesem speziellen Fall: Wie ich aussehen würde – in Polen, schreibend. Und es wurde mir klar, dass es eigentlich keine Rückkehr, sondern eine zweite Chance sein würde. So versuchte ich, darüber zu denken, und das machte die Situation ein wenig einfacher."

    Wie immer Mrożek es definierte: In seinem Fall sollte es doch eine endgültige Rückkehr sein. Es kam aber anders: Im Mai 2002 erlitt er einen Gehirnschlag und hatte danach gegen die Aphasie, einen vollkommenen Verlust der Sprache, zu kämpfen. Nach einer langen Rekonvaleszenz beschloss er plötzlich, abermals alle Zelte abzubrechen. Er ging vor zwei Jahren nach Frankreich zurück und lebt seitdem sehr zurückgezogen in Nizza. Doch bevor er ging, hatte er noch eine Autobiografie geschrieben. Sie trägt den Titel "Balthasar" – in Erinnerung an einen eigenartigen Traum: Er träumte von einem Dokument und einer Stimme, die gleichsam aus dem Nichts zu ihm sprach:

    Die Stimme sagte, dass ich bald eine weite Auslandsreise antreten würde. Das besagte Dokument würde ich mitnehmen und nach meiner Ankunft den dortigen Behörden vorlegen. Sie würden daraufhin jede meiner Forderungen erfüllen, unter der Bedingung, dass ich nie wieder meinen echten Vor- und Nachnamen benutzte. Mein neuer Name solle Balthasar lauten.


    Erwähnt wird u.a. Mrozeks Autobiografie "Balthasar". Diogenes Verlag