Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Meinhard Stark: Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936 - 1956.

Zur letzten Rezension unserer heutigen Sendung - und zu einem Buch mit einem gänzlich anderen Thema, das sich mit dem als "Gulag" bekannten sowjetischen Straflagersystem der stalinistischen Sowjetunion beschäftigt. 15 - 16 Millionen Menschen, so wird geschätzt, wurden allein in den 30er und 40er Jahren in diese Arbeitslager deportiert, darunter auch mehrere Millionen Frauen. Ihr Schicksal im Gulag thematisiert ein neues Buch aus der Feder von Meinhard Stark. Sylvie Reichel stellt es Ihnen vor:

Sylvie Reichel | 24.02.2003
    Auf dem Schutzumschlag des Buches steht:

    Dieses Buch beschäftigt sich zum ersten Mal mit dem Schicksal der im Gulag inhaftierten Frauen.

    Das lässt einen skeptisch werden. Immerhin widmete schon Alexander Solschenizyn in "Der Archipel Gulag" den Frauen ein eigenes Kapitel. Und was ist zum Beispiel mit den Erinnerungen von Jewgenia Ginsburg, Susanne Leonard oder Tamara Petkewitsch? Sogar Meinhard Stark selbst hat bereits ein Buch zu dem Thema veröffentlicht: "Ich muss sagen, wie es war. Deutsche Frauen des Gulag", eine Art Kollektiv-Biografie. Aber es erschien bis jetzt wohl kaum eine Abhandlung auf Deutsch, die auf so vielen Einzelschicksalen basiert und so konsequent das Lagerleben aus Frauensicht beschreibt. Und zwar von Anfang bis Ende. Beginnend mit der Festnahme, dem Aufenthalt im Gefängnis und dem Transport in Güter-, Vieh- oder speziellen Gefangenen-Waggons, sogenannten Stolypinskis:

    Die Gefängnisverwaltungen schickten die Häftlinge ohne jegliches Geschirr auf Transport. Selbst Becher zum Wassertrinken waren eine Rarität. Einigen Frauen wie Mia Spitz gelang es, ein Gefäß aus dem Gefängnis zu schmuggeln ... Ruth Z. war froh, den Becher einer an Typhus erkrankten Leidensgefährtin mit nutzen zu dürfen. Und im Stolypinskiabteil, in dem Margarete Buber-Neumann nach Kasachstan fuhr, fand sich eine verrostete Konservenbüchse, aus der alle 16 Frauen tranken. Je weiter wir uns von Moskau entfernten, berichtet die deutsche Exilantin, um so spärlicher wurde der Reiseproviant. Zuerst verschwand der Zucker, dann die Teeblätter im heißen Wasser, und zuletzt gab es nur noch einen halben Salzfisch... Der salzige Fisch, den nur wenige Frauen vor Hunger und den absehbaren Folgen verschmähen konnten, verursachte anhaltenden Durst. Es blieb nichts anderes übrig, als den Hering zu essen, konstatiert Tamara Ruschenzewa, "um dann vor Durst zu sterben".

    Meinhard Stark erzählt, wie die Frauen versuchen, mit dem letzten Schluck Wasser sich wenigstens Gesicht und Hände zu waschen, wie sie ihre Notdurft auf einer Tonne im Waggon verrichten müssen. Er beschreibt, wie die Gefangenen auf den Tod ihrer Leidensgenossinnen reagieren. Dann die Lagerankunft: Die Hoffnung nach dem schrecklichen Transport, wieder etwas zu essen zu bekommen, sich freier bewegen zu können. Schließlich die Enttäuschungen: der Arbeitsalltag, der Hunger, die Rangordnung unter den Häftlingen, die Drangsalierung durch die Wachen, die Krankheiten und die sexuellen Übergriffe.

    Die sexuelle Gewalt gegen Frauen endete im Gulag nicht bei Einzelvergewaltigungen. Immer wieder finden sich in den Berichten Schilderungen über gewalttätige Massenexzesse gegen Frauen. Maria Kona erinnert sich eines Überfalls krimineller Häftlinge auf eine Frauenbaracke in einem Lager der Uchtaregion im Jahr 1948. Drei Häftlinge wurden "viehisch vergewaltigt" und schwer verletzt. Im Transitlager Krasnojarsk war Nora Pfeffer Zeugin einer Massenvergewaltigung, die mit Billigung der Wachmannschaft stattfand. Man führte die Frauen auf die Latrine und informierte die männlichen Häftlinge. Nora Pfeffer sah, wie die Männer aus ihren Baracken eilten, "ihre Penisse auspackten und in die Latrine stürzten".

    Meinhard Stark lässt die Frauen zu Wort kommen. Fast jeden Absatz füllt der Autor mit Zitaten. Die 90 Einzelschicksale bilden die Basisebene, über der der Text liegt, die nach der Chronologie und den Hauptthemen des Lagerlebens gegliedert ist. Auf einigen Seiten wird nur von der Lagertopographie berichtet, auf anderen wiederum nur von Sexualität und Liebesbeziehungen. Die Stimmen, die aus der Erinnerungsebene in den jeweiligen Abschnitt passen, bezieht der Autor in seinen Text mit ein. Verloren ist allerdings jener Leser, der versucht, Einzelschicksale zu verfolgen. Dafür sind es zu viele Frauen. Meinhard Stark lässt sie versteckt in der Masse zur Geltung kommen. Selbst wenn sie über so sensible Themen wie die Liebe sprechen.

    "Es war ja nichts Gutes, sich da zu treffen in einem Versteck mit einem Mann und Angst zu haben, dass man dich fängt dabei und in den Karzer steckt dafür." - "Ich habe wenig mich mit denen beschäftigt. Ich habe ganz andere Sorgen gehabt." - "Aber es gab hin und wieder doch ein Kind." - "In manchen Lagern, wenn eine Frau ein Kind bekam, hat man ihr das Kind weggenommen. Auf Nimmerwiedersehen." - "Das war immer eine große Tragödie, wenn man der Frau das Kind wegnahm und ins Kinderheim steckte." - "Weil es hat geheißen, überhaupt, da wir als Volksfeinde figurierten, dass das Kind, das in der Sowjetunion geboren wurde ... darf kein Volksfeind werden."

    Manchmal enttäuscht, dass die einzelnen Geschichten nur angerissen werden und nicht weitererzählt. Aber persönliche Schilderungen und Lager-Biografien bieten andere Werke, vor allem jene, in denen betroffene Frauen selbst aufschrieben, was sie erlebten. Meinhard Stark nutzt diese Aufzeichnungen. Allerdings nicht nur. Denn die veröffentlichten Lagerberichte stammen fast alle von intellektuellen, politischen Frauen. Sie haben ihre eigene Perspektive. Der Autor hat versucht, sie um die der einfachen Frauen zu ergänzen:

    In die Studie von mir sind eben durch die Methode des lebensgeschichtlichen Interviews auch Frauen eingeflossen, die sonst nur vermittelt vorkommen. Und das heißt, das sind Angehörige derer, die die Masse der Lagerbevölkerung ausmachten. Eben Bäuerinnen, Religiöse, Frauen vom Lande. Auch solche Frauen habe ich aufgesucht ..., die sozusagen aus ihrer Sicht erzählen, wie sie das Lager erlebt haben.

    Wer nicht zu Wort kommt, sind die offensichtlich kriminellen Frauen. Jene, die ins Lager kamen, weil sie gestohlen hatten oder getötet. Trotzdem ist viel über sie zu lesen. Denn im Gedächtnis ihrer Mithäftlinge spielen sie die Rolle der Unterdrücker, der Peiniger. So erinnerte sich zum Beispiel Anna Lengenfelder, die als junges Mädchen ins Lager gesperrt wurde, in einem Deutschlandfunkfeature:

    Das waren richtige so Halsabschneider. Die hatten eine Sprache, aber so brutal, so gemein. ... Ich konnte die Trage nicht heben. Da haben sie mir einen Stein draufgelegt. Der war so schwer. Wahrscheinlich so 200 Kilo. Und dann ging’s los. Das kann ich nur auf Russisch sagen. Also auf Deutsch kann ich die Worte nicht wiederholen. Aber das war so gemein: "Ja, dich müsste man, ... dich müsste man das und das. Wir müssten mal alle über dich hersteigen!" Ich dachte: "Mein Gott, wo bin ich jetzt? Jetzt bin ich in der Hölle!"

    Zwischen Wirklichkeit und Erinnern liegt natürlich immer eine sehr große Differenz. ... Bezüglich der Kriminellen, sind in der Tat traumatische Erfahrungen, die durchaus Frauen mit den Schwerkriminellen hatten, in der Erinnerung noch aufgeladen. Dennoch spricht vieles für die Realität. Nicht nur die Erinnerung, sondern auch Akten. ... Wenn sozusagen im Jahr 41 politische Häftlinge wegen unbedachter politischer Äußerungen, wegen sowjetischer Agitation zum Tode verurteilt werden und ermordet werden und religiöse Frauen nach Arbeitsverweigerungen. ... Dann ist es schon frappierend, wenn man weiß, dass kriminelle Häftlinge wegen Mordes an Mithäftlingen zu weiteren zehn Jahren verurteilt werden, die Leute dann irgendwann amnestiert und vorfristig entlassen werden. Dann ist einerseits das Gewaltpotenzial gerade gegenüber Frauen durchaus deutlich geworden. Und auf der anderen Seite zeigt das, wie milde die Lageradministration ... mit diesem Gewaltpotential umgeht. Und das heißt natürlich, dass man ganz zielgerichtet mit dem Gewaltpotential umgeht und das kriminelle Potential zur Disziplinierung des viel größeren Heeres der politischen Häftlinge einsetzt.

    Im Gulag, so Meinhard Stark, waren weit mehr politische Häftlinge inhaftiert, als in den offiziellen, sowjetischen Statistiken vermerkt. Denn zu der anderen Gruppe, den Kriminellen, zählten auch die "sozial gefährlichen" bzw. "sozial schädlichen Elemente". Die so eingestuften Menschen seien aber eher politisch Verfolgte als Kriminelle. Der Autor begründet seine Behauptung präzise. Nach über zehn Jahren Forschung hat er ein Wissen angesammelt, dass den Leser überzeugt. Während der politischen Wendezeit in der DDR traf Meinhard Stark auf eine Frau, die mehrere Jahre im Gulag verbracht hatte. Ihre Biografie beeindruckte ihn. Er begann weiter zu forschen. 1999 erschien zunächst seine Dissertation zu deutschen Frauen im Gulag. Vor zwei Wochen nun das zweite umfassendere Werk, ein Sammelband über das Leben im Gulag. Dabei lässt der Autor die Frauen auch Probleme schildern, bei denen sich der Leser fragt, warum er sie nicht auch aus Männermund erfahren kann. Meinhard Stark hat auch dafür eine Erklärung:

    Ich hab ja im Laufe der Jahre auch zahlreiche Interviews mit Männern gemacht, die im Gulag waren. Und da gibt es schon einen Unterschied im Erzählen, in der Erinnerung. Und ohne den Männern, die ja auch ein Schicksal hinter sich bringen mussten, ohne denen zu nahe zu treten, wird doch eine Tendenz einer gewissen Inszenierung deutlich. Man findet doch bei Männern vielfach das Bedürfnis, eine relativ runde Geschichte über sich zu erzählen, und man trifft auch auf das Bedürfnis, das eigene Leben in die große Geschichte einzuordnen und sozusagen schnell von der subjektiven auf eine allgemeine Erfahrung abzuheben. Und das fand ich bei den Frauen nicht so sehr. Sondern da war es immer eine sehr, sehr persönliche, eine sehr individuelle Erzählung des Erlebens des Erlittenen. Und deshalb finde ich diese Erinnerungen und gerade diese mündlichen Erinnerungen aus den Interviews heraus sehr, sehr authentisch.

    Meinhard Stark selbst ist fasziniert von seinem Thema, beeindruckt vom Leben seiner Interviewpartnerinnen. Mit "Frauen im Gulag" hat er nun so etwas wie ein Erinnerungsbuch geschaffen. Es lebt durch die Erinnerungen der Frauen und ist zugleich ein stilles Denkmal für sie.