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Meinungsbildung mit Qualität

Die links-liberale "Gazeta Wyborcza" ist die größte Qualitätszeitung in Polen - ein Wendeprodukt. 20 Jahre später gilt sie mit 600 Redakteuren und einer Leserschaft von mehr als vier Millionen als das wichtigste Organ der Meinungsbildung in Polen.

Von Vanja Budde | 23.10.2010
    Im futuristischen Bau des börsennotierten Medienkonzerns Agora in Warschau arbeiten die Redakteure der "Gazeta Wyborcza" zwar im Großraumbüro, Stellwände sichern jedem aber seine kleine Nische. Mit fünf Prozent der Aktien und bevorzugten Stimmrecht sind die Mitarbeiter am Unternehmen beteiligt. Einer von ihnen ist Grzegorz Piechota: Der Sonderbeauftragte für Neue Medien hat sein Büro gleich neben dem von Chefredakteur Adam Michnik.

    "Wir sind die Stimme des modernen Polens. Wir versuchen, die Folgen der kommunistischen Vergangenheit zu überwinden. Wir von der 'Gazeta' glauben, dass Zeitungen eine größere Aufgabe haben, als nur Nachrichten zu verbreiten: Wir sind ein Baustein im demokratischen System und tragen Verantwortung für diese Gesellschaft. Wenn wir also der Meinung sind, dass beispielsweise das polnische Gesundheitssystem marode ist, tun wir etwas, um das zu ändern."

    Unter dem Motto "Uns ist nicht alles egal" berichtet die Zeitung in pointierten, präzisen, auch unterhaltsamen Stil über Missstände und greift darüber hinaus auch zum Mittel der Sozial-Kampagne. Derzeit habe sich das Blatt zum Ziel gesetzt, 10.000 Ärzte darin zu schulen, menschlicher mit ihren Patienten umzugehen, erzählt Piechota stolz. Die begleitenden Artikel-Serien werden intensiv beworben, um die Leser zu locken.

    "Die polnische Post ist nicht effizient genug, die Zeitung früh morgens auszuliefern. Man kriegt sie erst mittags. Leider muss man also auf dem Weg zur Arbeit oder zur Uni am einem Zeitungsstand oder einem Kiosk Halt machen. Wir haben überhaupt keine Abonnenten - so wie in Deutschland. Also kämpfen wir jeden Tag um jeden Leser."

    Die meistverkaufte Zeitung in Polen ist das Boulevardblatt "Fakt" des Springer-Konzerns. Nach dessen Einführung 2003 schrumpften die Werbeeinnahmen der "Gazeta", die gedruckte Auflage sank von fast 500.000 auf durchschnittlich rund 330.000 Exemplare. Der große Erfolg der "Gazeta" im Internet mache das aber wieder wett, frohlockt Piechota:

    "Das Wichtigste, was man beachten muss, um im Internet Geld zu verdienen, ist eine gute Beziehung zum Leser. Man muss an sie als Menschen denken, nicht als 'Bytes'. Du musst mit ihnen kommunizieren."

    Statt lediglich Inhalte online zu stellen, haben die Programmierer der "Gazeta" schon 1995 ein Internet-Portal gegründet. Die mehr als 90 teils kostenpflichtigen Webseiten erreichen laut Piechota zwölf Millionen Nutzer, 56 Prozent aller User in Polen. Das "Gazeta"-Portal ist das Viertgrößte in Polen und konkurriert nicht mit anderen Zeitungen, sondern Internet-Riesen wie Google oder Facebook.

    Fast 25 Prozent der Werbeeinnahmen werden im Internet generiert - statt der in Verlagen weltweit üblichen zehn Prozent. Könnte die "Gazeta Wyborcza" damit ein Vorbild sein auch für deutsche Zeitungen in der Krise? Grzegorz Piechota lächelt fein - und antwortet höflich.

    "Es gibt Zeitungen, die haben eine lange Geschichte und natürlich zögern sie, sich zu verändern, denn diese Tradition ist auch ihr Aktivposten. Es ist nichts Falsches an dem Erbe großer Blätter wie der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' oder der 'Süddeutschen Zeitung', im Gegenteil ist es mit ein Grund, warum viele Leute sie lesen. Aber natürlich sollten die Herausgeber neue Techniken und neue Medien in Betracht ziehen und dort denselben guten Journalismus machen. Das ist möglich, man kann nur nicht einfach die gedruckte Geschichte online stellen. So funktioniert das nicht."