Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Meister der Provokation

Ob sein Erstling "Ein andalusischer Hund" oder das letzte Werk "Dieses obskure Objekt der Begierde": Es sind surreale Szenen der Verstörung, die nahezu alle Filme Luis Buñuels auszeichnen. Und soziale Sprengkraft haben sie auch.

Von Wolfgang Martin Hamdorf | 29.07.2013
    Ein Rasiermesser zerschneidet ein Auge, eine Hand fasst an eine nackte Brust – zwei Priester ziehen ein Klavier mit einem toten Esel durch eine großbürgerliche Wohnung. 32 Mal hat Luis Buñuel Regie geführt, die Fähigkeit, mit überraschenden Bildern zu provozieren zeigte bereits sein erster Film "Un Chien Andalou" ("Ein andalusischer Hund"). Bei der Premiere seines zweiten Films "L'age D`or" ("Das goldene Zeitalter") von 1930 gab es einen Skandal: aufgebrachte Rechte im Publikum randalierten wegen der antiklerikalen Sequenzen. "L'age D`or" wurde verboten.

    Die Aufführung seines spanischen Dokumentarfilms "Las Hurdes - Tierra Sin Pan" wurde 1932 überraschend von der Regierung der jungen spanischen Republik untersagt. "Las Hurdes" stilisiert ein unglaubliches Elend in einer abgelegenen Region und die absolute Abstumpfung des Menschen durch die Verhältnisse. Ein schwarzes Spanien, die dunkelsten Bilder Goyas und ein Menschenbild, das so wenig mit dem reformerischen Eifer der spanischen Republik zu tun hatte.

    Luis Buñuel wurde am 22. Februar 1900 als Sohn einer bürgerlichen Familie in einem erzkatholischen Umfeld geboren, im nordspanischen Calanda, der Stadt der Bußtrommler zur Karwoche. Seine Kindheit in einer, so Buñuel selbst, "fast mittelalterlichen Atmosphäre" und eine strenge, körperfeindliche Erziehung in der Jesuitenschule haben seine Filme geprägt.

    Er schaffte es immer wieder, dem scheinbar harmonischen, fast harmlosen Kontext der Handlung durch groteske, surrealistische Elemente eine ganz neue Richtung zu geben und seine eigenen Themen zu verarbeiten: die Doppelmoral und die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Familie und der katholischen Kirche.

    Ausgelassene Stimmung herrscht im Herrenhaus. Ein Leprakranker tanzt mit einem Brautschleier zu Händels Messias aus dem Grammofon. In Abwesenheit der frommen Gutsbesitzerin Viridiana sind Bettler in die vornehmen Wohnräume eingedrungen. Der Blinde, der Leprakranke, der Lahme, 13 an der Zahl, wie Christus und seine Jünger, und sie positionieren sich am langen Tisch zu einer unheiligen Parodie auf Leonardo da Vincis "Abendmahl." Dann beginnt ein zerstörerisches Gelage.

    Wie viele andere ging auch Luis Buñuel nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges 1939 ins mexikanische Exil. 23 Jahre später war "Viridiana"
    sein erster Film in Spanien. Obwohl er von den Zensurbehörden der Franco-Diktatur zunächst genehmigt worden war und auch 1961 in Cannes die Goldene Palme gewann, provozierte er den größten Skandal der spanischen Filmgeschichte: Die rechtskatholischen Hardliner des Regimes wollten die Vernichtung des preisgekrönten Films durchsetzen, Stimmen aus dem Vatikan sprachen vom schlimmsten Angriff auf die christliche Caritas.

    Buñuel selbst lehnte es immer wieder ab, seine Filme zu deuten oder sich zu irgendeiner politischen oder künstlerischen Richtung zu bekennen. In Interviews gab er sich widersprüchlich, ein Tabubrecher, der sich von einmal gebrochenen Tabus gelangweilt zeigte:

    "Die direkte Darstellung widert mich an. Etwa der Kuss im Film. Wenn dann so ein Kuss zu sehen ist auf der Leinwand, so als wäre dieser Kuss die Krönung aller Küsse der Geschichte, dann widert mich das an. Wenn ich es aber erfinden könnte, wenn es noch nie einen Kuss im Kino gegeben hätte, dann fände ich das ganz wunderbar."

    Dabei war Buñuel auch ein Chamäleon, das sich geschickt seiner Umgebung anpasste. Seine mexikanischen Filme spiegeln die mexikanische Kultur in allen Facetten wider, seine zwei in Francos Spanien produzierten Filme sind 100 Prozent spanisch, und sein Spätwerk ist französisch. Die Drehbücher zu seinen letzten sieben Filmen, unter ihnen "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" und "Dieses obskure Objekt der Begierde" aus dem Jahre 1977 entwickelte Buñuel gemeinsam mit dem französischen Autor Jean Claude Carriere:

    "Was wäre aus ihm geworden, wenn er etwa im 17. Jahrhundert gelebt hätte? Er konnte nicht zeichnen, nicht malen. Er wollte auch nicht schreiben, er fühlte sich nicht als Schriftsteller. Er inszenierte ein bisschen Theater, aber eigentlich war er für den Film geboren."

    Am 29. Juli 1983 starb Luis Buñuel in seinem Haus in Mexiko City. Filme hatte er nach 1977 keine mehr gemacht. Er schrieb noch seine Autobiografie, die unter dem Titel "Mein letzter Seufzer" auch auf Deutsch erschien.