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Meister der Wortschöpfung

Der der knapp 80-jährige Werner Lutz ist ein Meister der Wortschöpfung. In "Kussnester" sind vier Zyklen zu etwa 20 Gedichten versammelt. Es ist ein großes Buch von einem großen Autor. Bestens geeignet zur Einübung in Langsamkeit und Gelassenheit, genauer Wahrnehmung und Mut zur Fantasie.

Von Matthias Kußmann | 18.02.2010
    Kussnester gut versteckt
    im Abend
    und den Fluss entlang
    Kastanienbaum an Kastanienbaum
    schlendernd Zweig an Zweig
    Arm in Arm
    wie Paare die sich vertragen
    nach all den langen Jahren


    Werner Lutz ist ein Meister der Wortschöpfung. Vom "Schattenhangschreiten" bis zum "Nelkenduftferkel" reicht sein Register. Und nun also "Kussnester". Das Wort sei eigentlich schon lange "fällig" gewesen, sagt der knapp 80-Jährige. Eines Tages flog es ihm zu, brachte ihn zum Lachen, und bald ergab sich ein Gedicht. Aber was sind "Kussnester"?

    "Etwas Heimliches vielleicht, etwas Verschwiegenes, Verstecktes. Ein Nest ist auch eine Sicherheit. Da drin nisten die Vögel für ihre Jungen. Und das Küssen. Irgendwie gehört das alles zusammen. Da nisten nun statt Vögeln halt Küsse. Ich hab schon Reaktionen bekommen von zwei Verliebten, zwei alten Verliebten. Die haben mir geschrieben, sie säßen jetzt in ihrem Kussnest. Irgendwie schlägt das Wellen."

    Lutz lebt die Woche über in einer kleinen Dachwohnung in Basel, direkt am Rhein. Er zeichnet, malt und schreibt, dazwischen geht er am Fluss lang oder liest. Ein zurückgezogenes Leben mit viel Ruhe, die er zum Arbeiten braucht. "Fast klösterlich" nennt er es und fügt schelmisch hinzu: "Nur die Kutte fehlt". Die Wochenenden freilich verbringt er auf dem Land, bei seiner Lebensgefährtin. Für sie sind die wunderbaren Liebesgedichte des Bandes:

    Ein sonnedurchwärmter Mensch
    selbst jetzt im Oktober sonnedurchwärmt
    kein Flüchtling kein Vertriebener
    keine Last für den Tag dank dir


    Lutz´ Gedichte haben weder Überschriften noch Satzzeichen; es gibt keine gesuchten Metaphern, Reime oder Zeilensprünge. Die Gedichte sind kurz, einfach und klar – was nicht heißt, dass immer alles ausgesprochen wird. Trotz ihrer genauen Wahrnehmung bleibt ein poetischer Luftraum, ein Freiraum für den Leser – und für das Gedicht selbst, das ja auch atmen will.

    Im neuen Band gibt es vier Zyklen zu etwa 20 Gedichten. Die Themen: Dinge, Landschaft, Menschen, Kunst, in allen Formen. Dazwischen stehen Reproduktionen von Zeichnungen des Autors, wilde Liniengeflechte – das ergibt eine schöne Spannung zu den eher ruhigen Texten. Auffällt, dass Lutz diesmal so etwas wie "Gedichtpaare" präsentiert. Auf Doppelseiten stehen sich Texte gegenüber, die meist zu verschiedenen Zeiten entstanden, aber Themen und Motive des anderen aufnehmen – und manchmal gar direkt aufeinander antworten. Es entsteht also nicht nur ein Dialog des Lesers mit den Gedichten, sondern auch unter ihnen selbst.

    Moosbedeckte
    Wolken treiben im Abend
    ein Abend wie geschaffen
    die tauben stummen Dinge
    zu fragen
    fehlt euch etwas
    fehlt euch etwas


    Und dann, als ironische Replik:

    Da ist guter Rat teuer
    spöttelt der Abend
    hinter mir her
    es gibt Köpfe
    auf die passt kein Hut


    Lutz´ Werk brauchte und braucht Zeit. Er schreibt seit Jahrzehnten, hat aber kaum ein Dutzend Bücher vorgelegt. Eine längere Erzählung, tagebuchartige Aufzeichnungen und, vor allem, Lyrik. Er nennt sich zwar einen "fanatischen" Gedichtschreiber - doch sein "Fanatismus" kommt ganz ohne Eile und Drängen aus, im Gegenteil. Er ist ein Meister des Wartens, der Gelassenheit. Dabei entstehn Gedichte manchmal fast von selbst:

    "Ich lasse dem Gedicht Zeit und die Zeit lässt mir Zeit. Das ist wunderbar. Ich kann ein Gedicht schreiben mit einem unaufgeregten Pulsschlag. Ich kann's auch wieder beiseite legen und es ist gut. Ich hol's dann wieder hervor, vielleicht vier Wochen später, vielleicht vier Monate später. Dann seh ich: Oh, das ist ja falsch, das gehört nicht rein, da muss was anderes rein. So wird es korrigiert, langsam, wie es die heutige Zeit gar nicht mag. Ich arbeite langsam, nicht effizient. Ich hab festgestellt, dass Warten das eigentliche Rezept für mich ist. Wenn was nicht stimmt, nicht zusammengehört und ich merke, da fehlt etwas, dann warte ich. Oft stellt sich die Zeile oder das Wort von selber ein. Manchmal denke ich, das Gedicht schreibt sich selber fertig, hat eine kleine Feder zum Schreibe."

    Warten einfach warten
    bis sich
    hinter den regennassen Gerüchen
    die Gärten wieder zeigen


    Vom "unaufgeregten Pulsschlag" beim Schreiben spricht Lutz. Und unaufgeregt, im besten Sinn, sind seine Gedichte – auch wenn sie, selten aber doch, von Abgründen und Dunkelheit handeln. Puls und Schreiben: Das führt zu einem Thema, das sich wie ein Leitmotiv durchs Buch zieht: die Hand.

    "Das ist mein Thema, mein Lebensthema. Die Hand ist für mich etwas vom Wesentlichsten. Augen sinds auch und das Herz muss ja, aber – die Hand ist so kreativ, die macht, was der Kopf denkt. Die Hände: das sind Aufzeichnungen eigentlich, Lebensgeschichten. Und dann hab ich natürlich fast alles in meinem Leben mit den Händen gemacht. Gezeichnet, geschrieben, gemalt, oder Sträucher geschnitten, Äpfel gepflückt, oder auch jemanden umarmt, da sind die Hände auch dran gewesen."

    Kaum einer
    geht behutsam mit sich um
    legt seine Hand
    auf die andere Hand
    gibt die Wärme
    und nimmt die Wärme
    der einen
    mit der anderen Hand


    Ein Fazit? "Kussnester" ist ein großes Buch von einem großen Autor. Bestens geeignet zur Einübung in Langsamkeit und Gelassenheit, genaue Wahrnehmung und Mut zur Fantasie. Ein Lebensbuch.


    "Kussnester"
    Gedichte des Lyrikers Werner Lutz
    (Waldgut Verlag)