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Meister des Surrealen

Am 9. November 1950 wurde in Mexiko Luis Buñuels Film "Die Vergessenen" uraufgeführt. Das Sozialdrama sorgte damals für Empörung: So ungeschönt wie der spanische Regisseur hatte noch keiner die Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft gezeigt.

Von Julia Macher | 09.11.2010
    In den großen Städten der Welt zeige sich das Elend und die Armut von Tausenden, deklamiert eine Stimme aus dem Off. Der folgende, auf wahren Tatsachen beruhende Film sei nicht optimistisch und nur die progressiven Kräfte der Gesellschaft könnten das Problem lösen....

    Als am 9. November 1950 in Mexiko City Luis Buñuels Film "Los Olvidados", "Die Vergessenen" uraufgeführt wurde, verstörte diese Botschaft das Premierenpublikum. Die bittere Geschichte um den skrupellosen Jaibo (Chaibo mit Rachen-Ch), der sich raubend, prügelnd und mordend durchs Leben schlägt und den Straßenjungen Pedro, den die Umstände auf die gleiche schiefe Bahn zwingen, passte so gar nicht in das optimistische Mexiko der Wirtschaftswunderjahre unter Präsident Miguel Alemán. Buñuel übe sich in "filmischem Sadismus" und beleidige seine Wahlheimat, schäumten Kritiker. Man solle den Exil-Spanier Buñuel gefälligst des Landes verweisen, forderten Intellektuelle. Der Filmhistoriker und Buñuel-Spezialist Román Gubérn:

    "Buñuel hat erzählt, dass die Frau des Dichters Luis Felipe ihm bei der Premiere die Augen auskratzen wollte und sich mit ihren langen spitzen Fingernägeln auf ihn warf. Den Film empfand man als Schlag ins Gesicht, weil er schonungslos die Situation an der Peripherie Mexiko Citys darstellte. Man wollte sich nicht eingestehen, dass es in glamourösen Großstädten Slums gab."

    Gerade mal vier Tage lief der Film in den mexikanischen Kinos. Man hätte "Los Olvidados" wohl vergessen, wäre es dem Schriftsteller Octavio Paz nicht gelungen, den Film 1951 zu den Internationalen Filmfestspielen nach Cannes zu bringen. Dort war man von der dokumentarischen Absicht des Spielfilms ebenso begeistert wie vom virtuosen Spiel mit neorealistischen und surrealistischen Elementen. Luis Buñuel bekam für den in 21 Tagen an Originalschauplätzen und teilweise mit Laienschauspielern gedrehten Film den Preis für die beste Regie und den Preis der Internationalen Filmkritik. Europa entdeckte einen seiner renommiertesten Regisseure neu:

    "Für die Europäische Intelligenzija war Buñuel mit dem Beginn des Spanischen Bürgerkrieges verschwunden. Dass er seit 1946 in Mexiko lebte, wussten die wenigsten; ein paar hatten mitbekommen, dass er zwischendurch in den USA gewesen war. Durch Cannes erinnerten sich seine surrealistischen Freunde wieder an ihn. Selbst André Breton, mit dem Buñuel sich aus ideologischen Gründen überworfen hatte, war von "Los Olvidados" bewegt."

    Der Erfolg in Cannes schob Buñuels Karriere in Mexiko an: Mehr als 20 Filme drehte er in den Folgejahren, darunter das Paranoiker-Portrait "Él" - einen seiner Lieblingsfilme-, sowie "Das verbrecherische Leben des Archimbaldo de la Cruz" und "Nazarín", für den er erneut in Cannes ausgezeichnet wurde. Daneben ein gutes Dutzend Melodramen und Komödien. Mit seiner effizienten Arbeitsweise, Drehzeiten von wenigen Wochen und teils nur drei, vier Tagen im Schnitt bediente Buñuel perfekt die Bedürfnisse der mexikanischen Traumfabrik - ohne sich selbst und seinem Anspruch, Sehgewohnheiten zu untergraben, untreu zu werden.

    "Die Filme, die Buñuel in Mexiko drehte, waren vor allem für das breite Publikum gemacht. Aber seine persönliche Handschrift gab er nie auf. In keinem Film hat er seine Ideale, seine moralischen Überzeugungen verraten. Das hat er selbst immer wieder betont. "Los Olvidados" ist mit Sicherheit einer seiner moralischsten Filme, mit einer klaren politischen Botschaft, die das Werk eng mit dem Dokumentarfilm "Erde ohne Brot" verknüpft."

    Für Román Gubérn setzten sowohl der 1933 gedrehte inszenierte Dokumentarfilm über das Elend in der Extremadura wie auch "Die Vergessenen" eine Zäsur: Es sind die einzigen Filme, in denen es nicht im weitesten Sinn um Buñuels große Themen geht - sexuelle Begierde und Frustration -, sondern um harsche Gesellschaftskritik.

    Dabei verweigert Buñuel bis zuletzt jeden romantisierenden Blick. Der Leichnam des jungen Pedro wird achtlos auf eine Müllhalde geworfen, und als Jaibo (Chaibo mit Rachen-Ch) von der Polizei erschossen wird, entfährt dem blinden Bettler: "Würden sie nur alle vor der Geburt getötet!" Unter den "Vergessenen" gibt es weder Solidarität noch Hoffnung. Übrigens: Dass Buñuel auf Druck des Produzenten alternativ ein glückliches Ende gedreht hatte, hielt er wohlweislich jahrzehntelang geheim.