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Meisterwerk am Meer

Das "Ravello-Arts-Festival" hat eine Attraktion mehr: Der Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur, Oskar Niemeyer, hat im italienischen Ravello einen organischen Konzertsaal geschaffen, der sich wie ein großes Froschmaul oder eine Stahlbetonwelle aus der Landschaft abhebt.

Von Thomas Migge | 26.01.2010
    Wie eine weit aufgerissene Pupille lockt der riesige ovale Eingang in den Konzertsaal. Die Pupille scheint zu einem Auge zu gehören, das, wie auf einem der surrealen Gemälde des spanischen Malers Dalì, mitten in der Landschaft liegt. Die Pupille ist schwarz, das restliche Auge blütenweiß. Die Umgebung grün. Und links, unten an der Küste, das azurblaue Meer. Dazu ein azurblauer Himmel.

    So präsentiert sich Oskar Niemeyers Auditorium in Ravello von der Eingangsseite aus. Ein architektonisches Meisterwerk, mit den für den brasilianischen Architekten typischen Augenmotiven. Ein architektonisches Meisterwerk: Das geben selbst Gegner des Bauwerks zu, das jetzt endlich der Öffentlichkeit übergeben wird. Mit dem Konzertsaal erhält Italiens längstes Sommerfestival endlich einen eigenen überdachten Aufführungsort.

    Dazu Stefano Valanzuolo, Direktor des "Ravello-Arts-Festival":

    "Dieses Auditorium ist gar nicht mal groß, es kann maximal 500 Personen unterbringen, und deshalb fügt es sich auch ungemein harmonisch in die Landschaft ein, die zum Meer hin abfällt, mit ihren Platanen und Zypressen. Stellen Sie sich vor, an so einem intimen Ort Wagner zu hören."

    Das Festival wurde 1953 zu Ehren Richard Wagners gegründet, der 1880 in den orientalisch anmutenden Gärten der Villa Rufolo die Inspiration für Klingsors Zaubergarten fand. Und so wird das Niemeyer-Auditorium auch mit Musik des deutschen Komponisten eingeweiht. Der Architekt wird nicht zur Einweihung anreisen; das Alter, heißt es aus Rio, wo der Baumeister lebt , Niemeyer ist 103 Jahre alt.

    Der Architekt hat im Jahr 2000, mit weit über 90 Jahren, für den kleinen Ort an der Amalfiküste eine Konzerthalle entworfen. Ein Neubau, der schon vor seiner endgültigen Fertigstellung Architekturexperten und –liebhaber aus aller Welt anlockte.

    Niemeyer hat nicht viele Bauten für Europa geschaffen. Er plante zwar manches für Europa, doch die Projekte wurden fast nie realisiert – wie zuletzt ein für Potsdam entworfenes Spaßbad. Der Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur, der unter anderem die brasilianische Hauptstadt Brasilia schuf, fasziniert durch seine futuristischen und ungemein plastischen Entwürfe. Das gilt auch für Ravello.

    Niemeyers Bau ist auf den ersten Blick simpel. Der Konzertsaal befindet sich in einer Art umgekehrter Dachschale, die wie eine weiße Welle aussieht. Sie ist auf der Seite der Sitzplätze doppelt so bereit ist wie auf der Bühnenseite. Die Sitzreihen sind wie in einem Amphitheater übereinander angebracht und passen sich damit dem vorgegebenen Terrain an, das zum Meer hin abfällt Die abgerundete Bühnenseite erhebt sich Richtung Meer. Sie verfügt über ein großes, rechteckiges Sichtfenster zur Natur. Dieses Fenster erinnert ebenfalls an ein Auge. Das Außen wird somit Teil des Inneren. Natur, Architektur und Musik sollen so zusammenfinden. Das Foyer des Auditoriums lehnt sich freischwebend über den abschüssigen Baugrund hinaus – und bietet somit einen atemberaubenden Blick auf die Küste.

    Die Realisierung des 16 Millionen Euro teuren Konzertsaals dauerte fast zehn Jahre. Nicht nur wegen der byzantinisch-langsamen Bürokratie Süditaliens, sondern auch weil das Projekt nicht nur Zustimmung fand und heftige Polemiken auslöste, was den Baubeginn immer wieder hinauszögerte. Einer der entschiedensten Gegner des Projekts war und ist Gianfranco Amendola von der italienischen Naturschutzorganisation Italia Nostra. Er kritisiert, dass die Gemeinde und die Festivalverwaltung das Bauprojekt gegen jeden Protest durchboxten:

    "Hier braucht man doch nur ein wenig seine grauen Zellen zu aktivieren, um schnell einzusehen, dass dieser Neubau eine Vergewaltigung dieser zauberhaften Landschaft ist. Ich verstehe nicht, wie die Behörden eine Erlaubnis zum Bau des Auditoriums geben konnten! Schauen Sie sich diesen Betonfrevel doch nur an."

    Im Gegensatz zu anderen Bauten von Oskar Niemeyer, dem wegen seiner Vorliebe für kalte und fast schon faschistische Monumentalität immer wieder vorgeworfen wurde, eine menschenverachtende Architektur zu entwerfen, präsentiert sich das Auditorium in Ravello wie ein Kleinod. Es passt sich perfekt in die Landschaft ein. Niemeyers klar strukturiertes Gebäude, das eigentlich nur aus einer Betonwelle besteht, wirkt minimalistisch klar und übersichtlich. In einer Landschaft, die in den letzten 50 Jahren von zahllosen illegal errichteten und hässlichen Wohnhäusern verschandelt wurde, erscheint der Konzertsaal des Festivals wie ein architektonischer Lichtblick.

    Der Fertigstellung und Einweihung des Konzertsaals kommt nicht nur architektonisch große Bedeutung zu. In einem Land, in dem seit einigen Jahren, seit Silvio Berlusconi regiert, die Ausgaben für Kultur, auch für Musiktheater und Festivals, drastisch beschnitten werden, ist die Investition für das Auditorium ein mutiger Schritt in eine als allgemein unsicher empfundene Zukunft. Das Ravello-Festival zieht jedes Jahr Tausende von Gästen aus ganz Italien an und verzeichnet sogar ein Einnahmenplus, selten für italienische Festivals.

    Zum kulturellen kommt somit auch der wirtschaftliche Aspekt, der gerade für das sozial und ökonomisch benachteiligte Süditalien von Bedeutung ist. Das Festival schafft Arbeitsplätze: als Festival mit seinen zahlreichen Veranstaltungen aber auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. Mit einem Kunstwerk von Oskar Niemeyer lohnt es sich einmal mehr, Ravello zu besuchen.