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Meisterwerke aus dem "Hut"

Paris ist das Zentrum Frankreichs. Das gilt auch für die Kunst. Das Centre Pompidou beherbergt neben dem New Yorker Museum of Modern Art die weltweit umfangreichste Kunstsammlung. Nun soll das Centre Pompidou Metz für noch mehr Besucher und eine Dezentralisierung der Kunstszene sorgen.

Von Björn Stüben | 11.05.2010
    2003 fiel eine Entscheidung, die die französische Museumslandschaft verändern sollte. Eines der nationalen Kulturflaggschiffe, das in Paris jährlich von dreieinhalb Millionen Besuchern frequentierte Centre Pompidou, kündigte an, im lothringischen Metz eine Dependance errichten zu wollen. Die mit dem New Yorker Museum of Modern Art weltweit umfangreichste Sammlung moderner Kunst platzt seit ihrer Eröffnung im Pariser Centre Pompidou vor über dreißig Jahren aus allen Nähten. Eine Zweigstelle in der französischen Provinz mit Werken aus dem immensen Pariser Bestand in wechselnden Ausstellungen bespielen zu können, erschien verlockend.

    Alfred Pacquemont, Direktor des Musée national d'art moderne im Pariser Centre Pompidou, über die Standortwahl Metz

    "Es galt unbedingt zu vermeiden, dass unsere Kunstsammlung als direkter Nachbar und somit Konkurrent zu bereits bestehenden Einrichtungen in Erscheinung getreten wäre. Museen moderner Kunst, die wie fast immer in Frankreich aus öffentlichen Geldern finanziert werden, sollten nicht vor den Kopf gestoßen werden. Das war anfangs meine größte Sorge, und mit Metz haben wir dann einen Standort gefunden, der bisher ohne ein großes Museum für moderne Kunst auskommen musste. Somit haben wir die seltene Gelegenheit ergriffen, hier eine Lücke zu schließen."

    Das Architektenduo Shigeru Ban und Jean de Gastines hat hierfür einen luftigen Bau geschaffen, dessen Innenleben von einem aus Glasfasern, Teflon und Holzbalken konstruierten weißen, lichtdurchlässigen Dach überspannt wird, das, einem überdimensionalen, elegant geschwungenen Hut nicht unähnlich, auf der dreigeschossigen Konstruktion, in der sich knapp 5.000 qm Ausstellungsfläche befinden, zu liegen scheint.

    Spektakuläre Ausblicke auf die Stadtsilhouette von Metz eröffnen sich durch die riesigen Panoramafenster aller drei Ausstellungsetagen. Diese wurden jetzt mit 780 Exponaten bestückt, von denen alleine 700 aus den Pariser Beständen des Centre Pompidou stammen. Mit der Frage "Chefs-d'œuvre?", "Meisterwerke?" ist die gewaltige Eröffnungsschau betitelt, und schon nach wenigen Minuten dürfte fast jeder Besucher die Frage laut mit "Ja" beantworten. Vom Elfenbeinkästchen des 9. Jhds., dem illuminierten Stundenbuch von 1300 und einer Jugenstilvase Emile Gallés von 1904 über Filmsequenzen aus Hitchcocks Vertigo, Le Corbusiers Chaise Longue B 306 von 1930 und Giacomettis Große Schreitende bis hin zu Brancusis goldglänzendem Hahn, Max Ernsts Steinbock-Bronzegruppe und Marcial Raysse buntem Strandbild reicht die Bandbreite der Exponate, die alle Kritiker verstummen lässt, die im Centre Pompidou Metz eine Schau mit Werken zweiter Wahl aus den Pariser Reserven erwartet hatten. Im neuen Centre Pompidou Metz wird man nicht müde zu betonen, dass es sich hierbei nicht um einen Ableger der weltbekannten Pariser Institution handelt, sondern um ein völlig unabhängiges Ausstellungszentrum, das lediglich vom Know-how, den Beständen und natürlich dem klingenden Namen des großen Bruders in der Hauptstadt profitiert. Alfred Pacquemont:

    "Der Name Centre Pompidou steht in Frankreich als Synonym für eine große Kulturmaschinerie, in der interessante Projekte angestoßen werden. Und natürlich verbindet jeder das Centre Pompidou mit moderner und zeitgenössischer Kunst. Hinter diesem Namen verbirgt sich auch eine Art kultureller Identität, die von großer Ambition, aber auch von langer Erfahrung gekennzeichnet ist. All das macht das Centre Pompidou seit seiner Gründung in den 1970er-Jahren aus und soll auch das Centre Pompidou Metz charakterisieren."

    Die grandiose Eröffnungsschau legt die Messlatte für künftige Ausstellungen hoch, die im Centre Pompidou Metz, das keine eigene und ständig präsente Kunstsammlung besitzen wird, im Vierteljahresrhythmus gezeigt werden sollen. Die Region Lothringen und die Stadt Metz, die die 70 Millionen Euro für die Errichtung des ehrgeizigen Projekts weitgehend selbst finanziert haben und die laufenden Kosten von zehn Millionen Euro jährlich ebenfalls tragen, setzen auf Wachstum im Kulturtourismus und das Aufpolieren ihres etwas angestaubten Images als Provinzmetropole in Grenznähe zu Belgien, Luxemburg und Deutschland. Für Dominique Gros avanciert die Stadt Metz, der es als Bürgermeister vorsteht, gar zum Schauplatz kultureller Dezentralisierung:

    "Unter den französischen Königen und Kaisern und auch zur Zeit der Republik galt es als Tradition, einen Großteil der Reichtümer des Landes in der Hauptstadt Paris zu vereinen. Jetzt akzeptiert man zum ersten Mal in der Geschichte, dass nationale Schätze in der Provinz gezeigt werden müssen. Endlich nimmt die kulturelle Dezentralisierung in kleinen Schritten wirklich Gestalt an. Metz hat sich darauf eingelassen, ein Terrain und vor allem auch die Gelder gefunden, um diesen Richtungswechsel vorantreiben zu können."
    Was jetzt der spektakuläre Neubau auf einem Brachgelände hinter dem Metzer Bahnhof am meisten braucht, sind Besucher. Aus Belgien und Luxemburg sind diese schnell mit dem Zug angereist. Aus dem nahen Deutschland ist Metz leider selten mit einer direkten Zugverbindung zu erreichen. Und so bleibt die Versuchung weiterhin groß, mit dem TGV gleich Kurs auf Paris zu nehmen.