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Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch

Fair, aber hart - so hat sich DLF-Literaturredakteur Denis Scheck auch diesmal die Spiegel-Bestsellerliste vorgenommen. Sein Gesamturteil: "Ein Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft macht die Bücher auch nicht besser."

Von Denis Scheck | 05.08.2014
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest? "Dieses Gehirn hat es ja schon immer geahnt: ein Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft macht die Bücher auch nicht besser."
    Diesmal mit Büchern von Ex-Bundespräsidenten, Ex-Kirchenratsangehören, Ex-Fernsehmoderatoren und Ex-Zeitungsherausgebern sowie noch amtierenden Feuilletonisten, Finanz-Weltuntergangspropheten und abgehalfterten Diätmoppeln, die den Gipfel der Peinlichkeit erklimmen. In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen ungewöhnlich schlanke 3266 Gramm auf die Waage: zusammen 2650 Seiten.
    Platz 10) Dieter Hildebrandt : "Letzte Zugabe"
    (Blessing, 272 S., 19,99 €)
    Die Stärke des großen Kabarettisten Dieter Hildebrandt war sein unnachahmlicher Vortrag, Hildebrandts Retardieren im Übersprudeln, seine Attacken im Zögern, sein Auf-den-Punkt-bringen im Verhaspeln. Davon besitzt diese postum erschienene Sammlung letzter Texte leider nichts.
    Platz 9) George Packer: "Die Abwicklung" (Deutsch von Gregor Hens,
    S. Fischer, 510 Seiten, 24,99 €)
    Mit soziologischem Röntgenblick erzählt Packer exemplarische amerikanische Biographien von Sterneköchinnen wie Alice Waters oder Wal-Mart-Gründer Sam Walton und integriert diese Lebensläufe in packend aufbereitete Strukturanalysen des „Unwinding" der amerikanischen Gesellschaft. Ein exzellentes Sachbuch.
    Platz 8) Peter Hahne: "Rettet das Zigeunerschnitzel"
    (Quadriga Verlag, 126 S. , 10,00 €)
    Eine Sammlung von Kolumnen aus der „Bild am Sonntag" vom unangefochtenen deutschen Meister der Katachrese, der scheinbar mühelos
    „mit der Waschmaschine ein Klischee aufs Korn zu nehmen"
    versteht und Sätze meißelt wie
    „Nach dem Schock wird durchgeatmet und innegehalten, doch dann brechen sich Stolz und Trotz die Bahn."
    Als dadaistisches Spaßereignis bereiten Peter Hahnes Kolumnen reuelosen Genuß.
    7) Frank Schirrmacher: "Ego. Das Spiel des Lebens"
    (Blessing, 352 S., 19,99 €)
    Die Nachrufe auf Frank Schirrmacher legen nahe, daß der deutsche Journalismus ein Jahrhundertgenie verloren hat. Ein erneuter Blick in sein aktuelles Buch bestätigt, daß er ein genialer Aufbauscher und Alarmist war, ein versierter Eigenblutdoper, der sich und sein Publikum zu berauschen vermochte mit allem, was ihn gerade affizierte. Dabei entstehen Sätze wie:
    „Es ist nicht wahr, dass nur zählt, was Geld ist, sondern: Alles ist Geld."
    6) Christian Wulff: "Ganz oben. Ganz unten."
    (C.H. Beck, 256 S., 19.95 €)
    Christian Wulff wurde Opfer eines Shitstorm, den eine vom Jagdfieber ergriffene Medienmeute und übereifrige Staatsanwälte ausgelöst haben.
    „Die Wiederherstellung meiner Ehre im staatsbürgerlichen Sinn ersetzt nicht den Verlust meiner Ehre als öffentliche Person",
    schreibt der Altbundespräsident über seinen Freispruch. Dieses Buch ist eine Selbstrechtfertigung, tappt aber selten in der Falle der Selbstgerechtigkeit. Wulff schreibt immer dann am spannendsten, wenn er über das Verhältnis von Politik und Medien nachdenkt und über den Anspruch letzterer,
    „selbst Politik zu gestalten und zu bestimmen."

    5) Volker Weidermann: "Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft"
    (Kiepenheuer & Witsch, 156 S., 16,99 €)
    In einem belgischen Seebad treffen sich drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung einige der edelsten Federn der deutschen Emigration. Volker Weidermann versucht mit Mitteln der Prosa, das damalige Lebensgefühl von Irmgard Keun und Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Stefan Zweig darzustellen.
    „Was ist es letztlich anderes als eine große, lange Urlaubsreise, auf der sie sich seit Jahren befinden? Fern der Heimat, mit Freunden unterwegs, in Paris, Nizza, Sanary-sur-Mer, Amsterdam, Marseille, Ostende. Und irgendwann eben wieder zurück."
    Davon glaube ich kein Wort.
    4) Roger Willemsen, "Das Hohe Haus"
    (S. Fischer, 398 S., 19.99€)
    Es gibt durchaus Fälle, wo der Blick eines Autors ein an sich trockenes Sujet so zu beleben vermag, daß es gar keine Rolle spielt, wovon ein Text eigentlich handelt – etwa, wenn David Foster Wallace eine amerikanische Landwirtschaftsausstellung beschreibt oder Arno Schmidt über Staatshandbücher des Königreichs Hannover. Roger Willemsens Selbstversuch, ein Sitzungsjahr lang die Debatten im Deutschen Bundestag zu begleiten, führt aber zum gegenteiligen Effekt: einer unserer quirligsten Denker versinkt im Phrasenglibber. Kein schöner Anblick.
    3) Matthias Weik, Marc Friedrich: "Der Crash ist die Lösung"
    (Eichborn, 381 S., 19,99€)
    In ihrer aufgekratzten Hysterie erinnern die Autoren dieser Warnschrift vor dem Kollaps unseres Geld- und Finanzsystems an jene oft karikierten Menschen mit Papptafeln, auf denen sie den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang ankündigen. Lesenswert ist ihre Analyse der Finanzkrise, wenn Weik und Friedrich es nicht bei bloßen Anlagetips (Gold, Wald ...) belassen, sondern zu Erkenntnissen vordringen wie:
    „Das beste Investment überhaupt ist das in die Bildung und lebenslanges Lernen."

    2) Susanne Fröhlich, Constanze Kleis: "Diese schrecklich schönen Jahre"
    (Gräfe und Unzer, 207 Seiten, 16,99 €)
    In der Welt des Geistes besitzen Susanne Fröhlich und Constanze Kleist die Bonität argentinischer Staatsanleihen. Ihr neues Buch, das neben viel Gejammer übers Altern einen Selbstversuch mit Botulinumtoxin und Hyalurensäure zur Faltenglättung schildert, gibt den intellektuellen Ratingagenturen keinen Anlaß zur Korrektur ihrer Einschätzung. Der Tiefpunkt ist die Schilderung des Besuchs eines Waxing-Studios.
    „Pobacken auseinanderhalten!" lautet die nächste Anweisung. Das ist jetzt wirklich der Gipfel der Peinlichkeit",
    schreiben die Autorinnen auf Seite 58. Sie irren. Das Buch hat da noch 149 weitere Seiten.
    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch:
    Wilhelm Schmid: "Gelassenheit" (Insel Verlag, 118 Seiten, 8 €)
    Dezenz ist eine der größten Tugenden dieses Autors, sein Buch gegen Jugendwahn und Altersrassismus eine wohltuende Aufforderung zum Durchatmen in aufgeregten Zeiten.