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Melancholie

1867 hat Lars Hertervig "Die Insel Borgøya" gemalt. Hinter bräunlich verwitterten Steinkuppen erstreckt sich darauf ein schimmernder Fjord, auf dem vereinzelt Segelboote zu erkennen sind. Aus dem glatten Wasser ragen Felsen auf, ferne Gestade sind zu erkennen, über denen sich dunkle Wolken ballen, und darüber liegt ein ruhiger, blauer Himmel, aus dem die Sonne einen zarten Schatten über Land und Meer wirft. Nichts an Hertervigs Fjordlandschaft deutet auf extreme Spannung, auf die Repräsentation seelischer Ausnahmezustände hin, und doch war seine unakademische, spirituelle Malerei vielen Zeitgenossen ein Ärgernis. Lars Hertervig, heute einer der Klassiker der norwegischen Malerei, brach sein Malereistudium an der Düsseldorfer Akademie auf Rat seines Lehrers ab und erlitt 1854, mit 24 Jahren, eine schwere Nervenkrise. "Melancholie" hieß der Befund, den man alsbald in einer Heilanstalt in Christiania konstatierte. Die Krankheit ließ ihn nicht mehr los, auch wenn sie ihm noch einige produktive Jahre ermöglichte. 1902 starb er, als verarmter und geistig verwirrter Außenseiter, in seiner Heimatstadt Stavanger.

Christoph Bartmann | 26.06.2001
    "Melancholie" heißt der Roman, zu dem sich Jon Fosse, Norwegens und Europas wohl produktivster lebender Theaterautor, von der unglücklichen Geschichte des Malers Lars Hertervig hat inspirieren lassen. Das Ergebnis ist kein historischer oder gar dokumentarischer Roman, sondern eher schon eine Litanei, eine inständig repetitives Durcharbeiten eines beschränkten Vorrats von Sätzen und Formulierungen. Über 200 Seiten lang ist der einleitende innere Monolog - "Düsseldorf, Nachmittag, Spätherbst 1853" - des Kunststudenten Hertervig: "Ich bin der Junge aus Stavanger", heißt es darin, "ja, der Junge aus Stavanger in Düsseldorf! wo er zum Maler ausgebildet wird. Und feine Kleidung habe ich jetzt, einen lila Samtanzug, den habe ich mir gekauft, jetzt bin ich Maler, ich, ja ich, der Junge, der Straßenjunge, der Quäkersohn, das Armeleutekind, der Malergesell, ich, jetzt haben sie mich nach Deutschland geschickt, an die Kunstakademie in Düsseldorf (...) Und ich kann wirklich malen". Malen kann er zwar, der Quäkersohn aus der tiefsten norwegischen Provinz, aber er wird nie ein Genremaler werden, weil Hans Gude, sein Lehrer, seinen Stil zu kühn findet. Und überhaupt kann seines Bleibens in Düsseldorf nicht länger sein, denn Lars Hertervig hat sich fieberhaft in Helene, die fünfzehnjährige Nichte seines Zimmerwirts verliebt und soll umgehend seine Unterkunft räumen. Alles geschieht oder geschieht nicht an diesem einen Nachmittag im Spätherbst 1853: Lars Hertervig wird nicht zur abendlichen Zusammenkunft der Lehrer und der mehr oder minder unbegabten Kollegen in den Künstlerverein "Malkasten" gehen. Er wird sein Studium auf der Stelle abbrechen, er wird Helene nicht wiedersehen und bei Herrn Winckelmann, dem Hauswirt, seinen Koffer in Empfang nehmen. Die Melancholie hat von Lars Hertervig Besitz ergriffen. Die nächste Szene, der nächste Monolog des Romans spielen dann bereits in der "Irrenanstalt Gaustad in Christiania", an Weihnachten des Jahres 1856.

    Jon Fosse hat ein Faible für Extremisten, für Sektierer und Gottsucher, und Lars Hertervig, der geniale Quäkersohn aus bescheidensten, aber sittenstrengsten Verhältnissen, ist eine Figur nach seinem Geschmack. Fosse hat wenig Scheu, dort, wo sie ihm geboten scheinen, auch mit Versatzstücken zu arbeiten. Entspricht das doppelte Scheitern des Lars Hertervig in der Kunst und in der Liebe nicht voll und ganz dem Klischee des romantischen Künstlerromans? Hat nicht Fosse die Biographie des schwermütigen Malers geradezu zum Schauermärchen entstellt? Soviel ist richtig: Fosse will seinen Helden und seinen Wahn gewiß nicht entmystifizieren. Im Gegenteil, alles drängt bei ihm zur Zuspitzung, zur Erschütterung. Zu Hertervigs Schwermut liefert uns Fosse nicht die Psychoanalyse und nicht die Sozialgeschichte, sondern, so könnte man sagen, die Passionsmusik.

    In seinen Sprechgesang hat Fosse eine aufschlußreiche Episode eingebaut. Es spielt an einem Abend im Spätherbst 1991 und führt in einem Vorort von Bergen einen Schriftsteller namens Vidme und eine junge und offenbar attraktive Pfarrerin zusammen. An jenem Tag, so wird uns mitgeteilt, "wollte Vidme einen neuen Roman anfangen, der mit den Bildern des Malers Lars Hertervig zu tun haben soll, und das (...) hat er einmal beschlossen, als er eher zufällig wegen heftigen Regens von einer Straße in Oslo weg in die Nationalgalerie hineinging (...) und dann fiel sein Blick auf ein Bild, das ihn anzog (...) und da und dort hatte Vidme eines verregneten Vormittags in Oslo das größte Erlebnis seines Lebens. Ja, das dachte er. Das größte Erlebnis seines Lebens." Der Maler Hertervig ist ein entfernter Verwandter des Schriftstellers, erfahren wir beiläufig, und weiter nur, daß es den Schriftsteller drängt, nach langer Distanz wieder der Kirche beizutreten, weshalb er das Gespräch mit der Pfarrerin gesucht hat. Aber die Pfarrerin läßt ihn freundlich wissen, er werde in der Kirche wohl nicht heimisch werden, denn er sei wohl eher ein religiöser Mystiker, und nach denen habe die norwegische Kirche keinen Bedarf. So wiederholt sich im Leben des Schriftstellers Vidme die Abweisung, die seinem entfernten Verwandten Hertervig an der Düsseldorfer Akademie zuteil wurde. Es geht in Hertervigs Malerei und Fosses Buch um die Radikalität einer religiösen Erfahrung, die manche in den Wahnsinn treibt und andere an den Schreibtisch kettet: "Da sitzt der Schriftsteller Vidme", heißt es bei Fosse, "und denkt. Jetzt sei Gott ihm gnädig, damit er schreiben kann."